Deftige Kapitänsrede im Rathaus: Rackete wirft EU Rassismus vor
"Sea-Watch"-Kapitänin Carola Rackete hat beim Kapitänstag im Bremer Rathaus mächtig auf den Putz gehauen. Deshalb spricht sie vom "Versagen" der Politik.
Im Reden sei sie nicht geübt, spreche an Bord eher in knappen Kommandos, schickte Carola Rackete voraus – und wirkte dabei tatsächlich ein bisschen fahrig. Das aber legte sich schnell. Nach wenigen Sätzen war sie bei dem Thema angekommen, das sie – gegen ihren Willen – berühmt gemacht hat: bei der Seenotrettung.
"Wie muss es sein, auf einem billig hergestellten, überladenen Schlauchboot zu sitzen, das den Naturgewalten ausgesetzt ist? Wie fühlt man sich in so einem Boot ohne nautische Crew, ohne Rettungswesten, ohne Wasser und ohne Treibstoff für den nächsten Tag?" So fragte sie rhetorisch in die Runde. Und wie erst fühle man sich auf so einem Boot, wenn man nicht schwimmen könne, wenn das Boot Leck schlage und zu sinken beginne?
Zahlen der UN: 18.000 Tote im Mittelmeer seit 2014
Niemand wisse, wie viele Bootsunglücke es in den letzten Jahren im zentralen Mittelmeer vor Libyen gegeben habe. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen spreche von mehr als 18.000 Toten seit 2014: "Auch meine Crew konnte auf einigen Missionen nur noch Leichen finden", so Rackete.
Es sei eine politische Entscheidung, die Menschen auf See ertrinken zu lassen, stellte sie klar. Denn die Flucht über das Mittelmeer sei kein neues Phänomen. Schon vor 20 Jahren seien Bootsflüchtlinge etwa aus Marokko nach Spanien gekommen. Anfang dieser Dekade habe sich dann die Route über Libyen nach Italien etabliert, woraufhin der italienische Staat die Rettungsmission "Mare Nostrum" ins Leben gerufen und die italienische Küstenwache Tausenden das Leben gerettet habe.
"Aber weil die Finanzierung teuer war, und die anderen europäischen Staaten die Kosten nicht mittragen wollten, wurde die Mission 2014 eingestellt", so Rackete. Da es auf diese Weise keine staatlichen Rettungsschiffe mehr gegeben habe, seien ehrenamtliche Helfer eingesprungen. So habe die Initiative "Sea-Watch" das erste Privatschiff aus Deutschland aufs Mittelmeer entsendet. Die Idee sei gewesen, die Situation auf dem Meer zu beobachten und öffentlich bekannt zu machen – mit dem Ziel, dass die staatliche Seenotrettung ihre Aufgabe wieder übernehmen würde.
"Flüchtlingsströme sind Ausdruck globaler Ungerechtigkeit"
Das aber sei bis heute nicht geschehen. "2019 bleibt das Mittelmeer die tödlichste Seeroute der Welt", resümierte Rackete im Rathaus. Es handele sich um keine Flüchtlingskrise, sondern um eine Krise der Solidarität gegenüber den Aufnahmeländern im Süden Europas. Vor allem aber seien die Flüchtlingsströme auf hoher See Ausdruck globaler Ungerechtigkeit.
Wir lebten in einer globalisierten Welt. Und die reichen Europäer profitierten davon. "Unser Elektroschrott wird auf unseren Schiffen nach Ghana transportiert, unsere T-Shirts kommen aus Bangladesch Unsere Lebensgewohnheiten haben direkte Auswirkungen auf die Menschen im Süden", befand die Rednerin.
Auf Forschungsschiffen wie der "Polarstern" mit dem Heimathafen Bremerhaven habe sie die Auswirkungen der Erderwärmung auf die Natur mit eigenen Augen gesehen. Es sei klar, dass die Klimaentwicklung die Lebensgrundlage für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zerstören werde: "Die Waldbrände in Brasilien sind nur ein Vorgeschmack dessen, was noch auf die Menschheit zukommt", so Rackete.
Die Klimakrise würden zuerst diejenigen zu spüren bekommen, die überhaupt nicht dazu beigetragen hätten. "Wir Europäer haben eine Verantwortung, zu handeln. Doch statt Militärschiffe für die Seenotrettung zu entsenden, wird von unseren Steuergeldern eine libysche Küstenwache trainiert, die aus Milizen hervorgegangen ist, und die Menschen zurückdrängt in ein Bürgerkriegsland, wo sie Schläge und systematische Menschenrechtsverletzungen erleben", sagte die Kapitänin. Sie wirft der Europäischen Union (EU) vor, unterschiedlichen Parteien im Bürgerkriegsland Libyen zu unterstützen und auf diese Weise das Kriegsgeschehen zu befeuern.
Verpflichtung zur Rettung von Menschen in Seenot
Das Seerecht verpflichte dazu, Menschen, die in Seenot geraten seien, zu retten und erst in einem sicheren Hafen von Bord zu lassen. "Ich werde nicht darüber diskutieren, ob man Menschen aus Seenot rettet. Bei der öffentlichen Diskussion geht es nicht um das Seerecht, sondern um Rassismus", stellte Rackete klar. Was ein sicherer Hafen sei, könne nicht vom Pass oder der Herkunft einer Person abhängen.
Die EU drücke sich um ihre Verantwortung an den Außengrenzen, überlasse Seenotrettern und Frachtschiffen die Entscheidung über Leben und Tod unzähliger Menschen. Die Zivilgesellschaft handele an Stelle der Politik. "Dank meiner Verhaftung kamen innerhalb weniger Tage große Summen für die Seenotrettung zusammen aus Deutschland, aber auch aus Italien", befand Rackete.
Noch wichtiger als Geld aber seien Menschen, die sich aktiv für die Seenotrettung einsetzten, "Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen, wo die Politik versagt." Mit diesen Worten warb Rackete unter großem Beifall im Bremer Rathaus um Fachpersonal für die Seenotrettung.
Unter dem Eindruck ihrer Rede spendeten die gut 330 Gäste dieses 55. Kapitänstags im Bremer Rathaus anschließend rund 30.500 Euro an "Sea-Watch" sowie an die Bremer Seemannsmission.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 7. September 2019, 6 Uhr