"Titanic"-Überlebender: "Ich schwamm mit all meiner Kraft"
Der Untergang der "Titanic" – am 15. April jährt sich die wohl bis heute bekannteste Schiffskatastrophe zum 110. Mal. In Bremerhaven sind nun Seefahrtsbücher eines Überlebenden zu sehen.
Die Dokumente von Alfred Theissinger sehen aus wie zwei Reisepässe: dunkelblau, mit goldenem Prägedruck, etwas abgegriffen. Theissinger fuhr als Kabinensteward der Ersten Klasse auf der "Titanic". 110 Jahre später liegen seine Seefahrtsbücher auf dem Schreibtisch von Christian Ostersehlte, Archivar am Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven und "Titanic"-Experte. Das Museum bekam die Seefahrtsbücher Anfang der 1990er Jahre als Schenkung und zeigt sie nun in einer kleinen Sonderausstellung.
Seefahrtsbücher – die Arbeitsnachweise der Seeleute
In den beiden Büchlein sind die Fahrten verzeichnet, die Theissinger als Seemann unternahm – eine davon auf der "Titanic". Sie endete laut Eintrag am Tag des Untergangs, dem 15. April. Das Büchlein war damals nicht mit an Bord, es wurde später nachgefertigt und die Fahrten bis zum Untergang nachgetragen. Ob Theissinger stolz war, auf der berühmten "Titanic" mitzufahren? Vermutlich nicht, glaubt Ostersehlte.
Das war ein Broterwerb und ein Schiff wie viele andere. Man muss bedenken: Die "Titanic" war nicht berühmt, als sie zur Jungfernreise auslief. Die war nicht im öffentlichen Bewusstsein. Ihren Nimbus bekam sie erst durch das Unglück.
Christian Ostersehlte, "Titanic"-Experte
Die "Titanic" war das zweite Schiff der "Olympic"-Klasse, benannt nach dem älteren Schwesterschiff. Das erste Schiff einer Baureihe werde noch gefeiert, erklärt Ostersehlte, das zweite dann schon nicht mehr. Außerdem habe es unter den unteren Dienstgraden an Bord – auch den Stewards – eine große Fluktuation gegeben. Man sei sozusagen weder mit dem Arbeitgeber noch mit dem Schiff verheiratet gewesen. Angemustert wurde immer nur für eine Fahrt.
Das Unglück nimmt seinen Lauf
Über Theissinger selbst ist wenig bekannt. Er wurde 1865 oder 1867 geboren, hatte deutsche Wurzeln und lebte in London in einem Stadtviertel mit vielen Einwanderern aus Deutschland. Seine Seefahrtsbücher zeigen, dass er schon mehrfach auf Schiffen der White Star Line gefahren war – auch auf der "Olympic". Nach seiner Rettung schilderte Theissinger am 19. April 1912 der Tageszeitung Washington Herald, wie er das Unglück in der Nacht auf den 15. April erlebt hatte. Gegen halb zwölf Uhr abends habe er ein Geräusch gehört, ähnlich dem eines Ruderboots, das auf einen Kiesstrand fährt. Dann habe es eine leichte Erschütterung gegeben, die Motoren hätten angehalten und Wasser sei ins Schiff eingedrungen.
Als ich oben auf dem Sonnendeck ankam, sah ich Hunderte Leute hin und her rennen. Ich stand direkt hinter der Brücke, wo ich Kapitän Smith sah. Er hatte sofort die Kontrolle übernommen, als er von dem Unfall hörte. [...] Die Rettungsboote Nummer 1, 2 und 3 waren schon im Wasser, das jetzt nur noch 30 Fuß unter dem obersten Deck lag. Es war inzwischen halb ein Uhr nachts, und wir sahen, dass das Schiff dem Untergang geweiht war.
Alfred Theissinger im Washington Herald
Zuvor, so erzählt es Theissinger, habe er seine Passagiere geweckt und alarmiert – darunter einige der bekanntesten Reisenden an Bord, zum Beispiel Isidor Straus und Benjamin Guggenheim, beide reiche Geschäftsmänner in den USA. Eine Passagierin habe er gedrängt, schnell einen Mantel überzuwerfen und keine Zeit mit Ankleiden zu verlieren.
Historisch korrekt oder Legende?
Forschungen zufolge sind seine Schilderungen offenbar zumindest teilweise nicht korrekt. Ebensowenig lassen sich die Umstände seiner Rettung belegen. Theissinger selbst schildert sie im Zeitungsinterview so:
Ich sprang ins Wasser und Steward Selbert folgte mir. Ich schwamm mit all meiner Kraft und sah schließlich in meiner Nähe ein Floß, an das sich einige Männer klammerten. Eine helfende Hand streckte sich zu mir aus und wir lasen noch 17 weitere Menschen auf. Unter ihnen war eine Frau. Ich wünschte, ich könnte mich an ihren Namen erinnern. Während dieser düsteren zwei Stunden lachte sie und sang und heiterte uns auf. Das Wasser reichte uns bis zu den Knien.
Alfred Theissinger im Washington Herald
Der Untergang der "Titanic"
Gegen 2:20 ging die "Titanic" unter. Mehr als 1.500 der rund 2.200 Passagiere waren noch an Bord. Theissinger hatte Glück. Er wurde zusammen mit anderen Überlebenden von der herbeieilenden "Carpathia" der Cunard-Line an Bord genommen.
Er gehörte zu den Glücklichen, die nicht erfroren sind. Man ertrinkt nicht, man erfriert. Die meisten sind erfroren und trieben dann noch tagelang herum. Da gibt es so gruselige Geschichten, der Dampfer "Bremen" des Norddeutschen Lloyd sei noch durch ein Leichenfeld gefahren, ein paar Tage später.
Christian Ostersehlte, "Titanic"-Experte
Was wurde aus Alfred Theissinger?
Theissinger fuhr wenige Wochen nach dem Unglück wieder zur See. Danach verliert sich seine Spur. "Man findet bei 'Titanic'-Überlebenden Verhaltensprofile von – bis", sagt Ostersehlte. Es habe Überlebende gegeben, bei denen das Wort "Titanic" lebenslang nicht mehr ausgesprochen werden durfte. So traumatisiert seien sie gewesen. Andere überlebende Passagiere seien später völlig ungerührt auf der "Olympic" gefahren. "Obwohl alles auf Schritt und Tritt an das Unglücksschiff erinnert hat."
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Mittag, 14. April 2022, 13:10 Uhr