Kommentar
Kirchenasyl in Bremen: Wer entscheidet, wo der Rechtsstaat Recht hat?
Die Debatte um das Kirchenasyl in Bremen ist hitzig. Für unseren Redakteur Stefan Pulß geht es dabei um nicht weniger als die Frage nach unserem Rechtsstaat.
Schon im Vorfeld der Bürgerschaftssitzung war der Ton schrill: Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) mache sich zum Handlanger eines Unrechtssystems, so die Bremer Jusos. Unrechtssystem – da wird es interessant. Denn natürlich gibt es den Punkt, an dem man sich gegen staatliche Maßnahmen wehren darf. Oder sogar muss.
Die bremische Landesverfassung ist die einzige, die neben einem Widerstandrecht sogar eine Widerstandspflicht vorsieht, "wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden" – so heißt es dort. Aber jetzt mal ehrlich: Ist das hier so ein Fall? Und vor allem: Wer entscheidet das?
Natürlich gibt es den Punkt, an dem man sich gegen staatliche Maßnahmen wehren darf. Aber: Ist das hier so ein Fall? Und: Wer entscheidet das?
Stefan Pulß, Bremen Zwei-Redakteur
Man möge den Rechtsstaat nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen, auch er mache schließlich viele Fehler, so die Grünen-Fraktionschefin Henrike Müller in der Sitzung. Natürlich macht er Fehler, dafür gibt es dann aber festgelegte Verfahren, Gerichte, mehrere Instanzen, all dies.
Vielleicht hat die hier zum Ausdruck kommende Geringschätzung des Rechtsstaats auch damit zu tun, dass er schon so lange eine Selbstverständlichkeit ist. Dass kaum noch jemand eigene Erfahrungen mit einem Unrechtsregime, einer Willkürherrschaft hat. Und dass deshalb in Vergessenheit geraten ist, welche ungeheure zivilisatorische Errungenschaft so ein rechtsstaatliches System darstellt.
Die Frage nach der Moral
Aber Stopp: Es geht zunächst einmal um Menschen. In diesem, aktuell bekanntesten, Fall um einen 25-jährigen Somalier. Und ihm ist von ganzem Herzen zu wünschen, dass er in Freiheit und Würde leben kann, so wie dies allen Menschen zu wünschen ist. Ist das nicht wichtiger als staubtrockene, parpierene Gesetze? Steht der Mensch hier nicht über dem Verfahren? Was ist da richtig? Was ist "moralisch geboten"?
Vielleicht helfen auch hier Immanuel Kant und sein Kategorischer Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Oder einfacher ausgedrückt: "Was wäre, wenn das jeder machen würde?" Hier, im Fall des Bremer Kirchenasyls, nach Lesart der Zionsgemeinde, würde dieses Gesetz lauten: "Über geltendes Recht darf sich hinwegsetzen, wer das in höherem Interesse für nötig hält." Und dieses höhere Interesse mag dann sein: Humanität. Nächstenliebe. Gott. Oder das gesunde Volksempfinden? Oder der Dschihad?
Und da zeigt sich, wie schnell dieses Denken direkt in Teufels Küche führen kann. Wenn Einzelne von Fall zu Fall entscheiden wollen, wo der Rechtsstaat noch Recht hat – und wo nicht.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 12. Dezember 2024, 7:10 Uhr