"Die Kinder blühen auf": Von Bremen endgültig zurück in die Ukraine
Oleksandr war schon einmal in Bremen. Der damalige Soldat besuchte seine Familie. Doch die lange Trennung ist schwer für alle. Darum holte er Frau und Kinder jetzt nach Hause.
Russlands Krieg hat das Leben der Ukrainer nicht nur in "vorher" und "nachher" geteilt. Er hat Millionen von Familien getrennt. Auch die von Oleksandr. Er ist äußerlich ruhig und sogar fröhlich, spricht gleichzeitig konzentriert und ernst. Zum zweiten Mal besucht der ehemalige Soldat seine Familie in Bremen. Diesmal ist es aber anders: Er holt seine Frau und die Kinder zurück nach Hause. Der Mann ist entschlossen.
Es ist eine schwierige Entscheidung. Aber es ist schon schwer für uns ... Wir leben seit einem Jahr getrennt.
Oleksandr, ukrainischer Ex-Soldat
buten un binnen hatte darüber berichtet, als Oleksandr gemeinsam mit einem Freund im Sommer in Bremen war. Damals kämpfte er noch an der Front in seiner Heimatstadt Charkiw und war beeindruckt von der friedvollen Atmosphäre in Bremen. Weihnachten kam er ein zweites Mal und da trafen er und seine Frau die Entscheidung: "Wir fahren alle zusammen in die Ukraine."
Fernbeziehung belastet ukrainische Familien
Trotz regelmäßiger Videotelefonate sei es sehr schwierig, eine Fernbeziehung ein Jahr lang aufrechtzuerhalten, sagt Oleksandr. Besonders für Kinder, die ihren Vater vermissten. "Letzten Winter war meine Tochter Sofia noch ein Baby – und jetzt rennt sie schon, versucht zu sprechen und all das passiert ohne mich”, sagt Oleksandr. “Das ist hart.” Die ältere Tochter Solomiya, sie ist viereinhalb Jahre alt, sei nach den letzten Videogesprächen abends ins Bett gegangen und habe geweint. "Ich will meinen Papa", rief sie, erzählt Oleksandr weiter.
Es ist immer noch gefährlich, in der Ukraine zu leben, aber die familiären Beziehungen und die Erziehung der Kinder sind bedroht.
Oleksandr, ukrainischer Ex-Soldat
Dazu kommen Hürden des Alltags, die sie in Bremen erlebt hätten: Die Familie konnte ihre älteste Tochter nicht im Kindergarten anmelden. Alles sei überfüllt gewesen. Daher war der soziale Kreis der Vierjährigen auf ihre Mutter und ihre jüngere Schwester beschränkt. Das Kind habe mit niemandem mehr gesprochen und sich immer mehr zurückgezogen.
Oleksandr sagt, die Familie sollte den unbeständigen Winter eigentlich in Deutschland verbringen. Denn in der Ukraine ist der Winter die gefährlichste Zeit: Kälte, manchmal fehlende Heizung, Beschuss und ständige Stromausfälle. Doch trotz allem unterstützte Ehefrau Yulia ihren Mann bei dem Vorhaben, nach Hause zurückzukehren.
Hauptsache in die Nähe der Familie
Yulia sagt, sie sei Deutschland und der Stadt Bremen unglaublich dankbar für die Aufnahme und Betreuung, aber sie habe ihre Heimat und vor allem ihren Mann vermisst. Jetzt, wo sie inzwischen in der Ukraine leben, sagt sie: "Wir wussten nicht, ob wir die richtige Entscheidung getroffen hatten, als wir in die Ukraine zurückkehrten, aber wir wussten, dass wir in eine Stadt gehen würden, in der es während des Krieges relativ sicher ist und dass mein Mann uns besuchen kann. Denn wir vermissten uns alle unglaublich."
Die Stadt, in die die Familie zurückgekehrt ist, heißt Uzhhorod. Sie ist eine Stadt in der Westukraine, das Verwaltungszentrum der Region Transkarpatien und liegt an der Grenze zur Slowakei.
Zakarpattia ist das westlichste regionale Zentrum der Ukraine, das als das sicherste im ganzen Land galt, weil es das einzige regionale Zentrum war, in dem keine russischen Raketen ankamen. So war es bis zum Mai 2022 und dem ersten Beschuss der Unterkarpaten durch russische Marschflugkörper. Obwohl es heute keine Region mehr gibt, die nicht von Russland beschossen wird, sind die Luftangriffe hier viel seltener als in anderen Regionen.
Uzhhorod liegt an der Grenze zur Slowakei, und wenn dort etwas ankommt, besteht die Gefahr, dass es zu einem Konflikt mit einem NATO-Land kommt. Deshalb schickt Russland keine Raketen dorthin und es ist meiner Meinung nach sicher.
Oleksandr, ukrainischer Ex-Soldat
Seit dem ersten Tag des Krieges haben Tausende von Ukrainern die Kleinstadt Uzhhorod entweder als Zwischenstation vor ihrer Abreise ins Ausland oder als vorübergehende Unterkunft gewählt – sie wurden zu "Binnenflüchtlingen".
Oleksandr geht nach Charkiw in den Osten
Oleksandr selbst wird nicht in Uzhhorod bleiben. Er muss nach Charkiw zurückkehren, arbeiten und Geld für die Familie verdienen. "In Charkiw versuche ich nun, mein Geschäft am Laufen zu halten, das Messer für den Haushalt und für Gebrauchszwecke herstellt", sagt Oleksandr. In Charkiw gebe es immer noch sehr wenige Arbeitsplätze.
Als ich eine freie Stelle auf einer Jobseite ausschrieb, erhielt ich 100 Bewerbungen pro Tag. Sogar Büroleiter und Baristas schickten Bewerbungen für die Stelle des "Schlossers. Denn es gibt keine Arbeit, und die Menschen müssen irgendwoher Geld zum Leben bekommen.
Oleksandr, Ex-Soldat und Firmeninhaber aus Charkiw
Oleksandr ist Leiter des ukrainischen Messerkampf-Verbandes und trainiert ukrainische Kämpfer im Nahkampf. Er war es, der in den ersten drei Monaten des Krieges russische Angreifer abwehrte und Charkiw verteidigte. Heute kämpft er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst, sondern unterrichtet andere: "Jetzt werden viele Menschen zur Armee eingezogen, und der Staat hat nicht genug Mittel, um alle auszubilden. Wir versuchen, unsere Erfahrungen mit den Einheiten zu teilen, die uns einladen. Und wir machen das kostenlos im Rahmen der Verbesserung der Kampffähigkeit, damit die Leute den Krieg überleben."
Miteinander Zeit verbringen in der Ukraine
In Charkiw kann Oleksandr seine Familie öfter sehen und sie in Uzhhorod besuchen. Die Familie hat dort bereits ein Haus gefunden und gemietet, sagt Yulia, und sie haben die Möglichkeit, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Sie machen alltägliche Dinge wie Spaziergänge und Kaffee in einem Café trinken. Der Gedanke, dass ihr Mann bald nach Charkiw zurückkehren wird, beunruhigt Yulia sehr:
Ich spüre keine Angst in Uzhhorod. Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt, aber ich habe das Gefühl, hier zu Hause zu sein. Aber ich mache mir Sorgen um meinen Mann, der nach Charkiw gehen muss, um dort zu arbeiten, ich habe Angst um ihn.
Yulia, Geflüchtete, die in die Ukraine zurückgekehrt ist
Ob die Familie zusammen in ihre Heimatstadt Charkiw gehen kann, ist offen. Definitiv nicht in naher Zukunft, sagt Oleksandr. Dort sei es immer noch zu gefährlich. Aber die Bewohner der ostukrainischen Stadt haben sich auf die ständigen Strom- und Wärmeausfälle eingestellt: Sie haben sich mit Batterien und Powerbanks eingedeckt, und die Menschen teilen ihre Erfahrungen, wie sie sich in der Wohnung warm halten können. "Eine Möglichkeit ist, ein Zelt in die Wohnung zu stellen und dort zu schlafen. Denn es ist viel einfacher, ein Zelt für die Nacht zu heizen als die ganze Wohnung”, sagt Oleksandr. “Man stellt dort eine Kerze auf, bedeckt sie mit einem Tontopf, die Wärme staut sich dort, der Topf erhitzt sich, und der Topf heizt das Zelt auf."
In der Heimat Ukraine, wo man sich versteht
Seit mehreren Wochen lebt die Familie in Uzhhorod und kann sich noch nicht wieder sehen. Aber trotz des beschwerlichen Weges und der Sorgen ist die Familie mit ihrer Entscheidung zufrieden. "Die Kinder blühen vor unseren Augen auf", sagt der Vater.
Während des schwierigen Weges wurden wir von der Tatsache getragen, dass wir nach Hause in die Ukraine gehen würden. Eigentlich leben wir ja nicht in Uzhhorod, sondern in Charkiw. Aber trotzdem: Die Ukraine ist ein Land, in dem wir alles verstehen, in dem wir frei kommunizieren können.
Oleksandr, ukrainischer Ex-Soldat
Er habe dennoch Sorgen, sagt Oleksandr, "wird es hier weiterhin sicher sein?” Doch das sei der einzige Zweifel. Und der werde im Moment dadurch entschädigt, dass er die Freude der Kinder sehe: “Wie die Mädchen spielen, kommunizieren, neue Freunde finden und vor allem, dass ich sie umarmen kann. Und ich kann meine Frau umarmen, weil Menschen in einer Beziehung einander sehen müssen."
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 5. August 2022, 19:30 Uhr