Infografik
"Ortskräfte" aus Afghanistan: So geht es ihnen in Bremen
Vor drei Jahren haben die Taliban in Afghanistan die Macht ergriffen. Einige Ex-"Ortskräfte" leben jetzt in Bremen. Andere bangen weiter.
Sie haben dazu beigetragen, dass deutsche Soldaten und Helfer unversehrt nach Hause kamen, führten sie sicher durch Gefahrenzonen, Gegenden, in denen Bomben an jeder Ecke explodieren konnten. Sie waren ihre Augen und ihre Worte, öffneten Türen, brachten den Fremden das bei, was ihnen fehlte: Wissen. Informationen. Über den Ort, die Gepflogenheiten. Die Menschen. Die Freunde sowie die Feinde.
Jetzt leben sie in dem Land, dem sie einst halfen. In Deutschland. In Bremen und Bremerhaven etwa. In Wohnheimen, Reihenhäusern. In beengten Zimmern mit Blumentöpfen auf den Schreibtischen oder in Mehrzimmerwohnungen. In einem Land, dessen Sprache sie oft nicht beherrschen. Ein kühles, ein ganz anderes Land als das, aus dem sie herkommen. Sie gehen jeden Tag wieder zur Schule, um die Sprache zu lernen, als wären sie wieder Kinder. Arbeiten, warten auf Arbeit.
Oder auch nicht.
Ehemalige afghanische Ortskräfte, die noch in Afghanistan sind, leben seit der Übernahme der Taliban ein prekäres Leben. Unwissend, ob heute der Tag sein wird, an dem sich die jetzigen Machthaber an ihnen rächen. Denn sie haben für Fremde gearbeitet, Deutsche unter anderen, die die Taliban und ihre Wertvorstellungen zwei Jahrzehnte lang bekämpft haben. Viele sind in die Nachbarländer geflohen: Iran, Pakistan. Dort, in Islamabad, Teheran oder Isfahan warten sie. Sie warten auf Papiere, auf Visa oder Gespräche. Auf Stempel, auf einen Ausweg.
Und manchmal... warten sie vergebens.
Zahl eingereister Afghanen durch Bundes- und Landesaufnahmeprogramm Afghanistan
Gesamte Zahl eingereister, gefährdeter Afghanen seit August 2021, verschiedene Programme und Wege: 34.300
Quelle: Bremer Senator für Inneres, Auswärtiges Amt. Stand: August 2024.
Drei Schicksale
Vor anderthalb Jahren hatte buten un binnen mit drei Familien gesprochen, in Bremen und Bremerhaven, die mit aller Kraft versuchten, ihre afghanischen Angehörigen nach Deutschland zu holen. Manche waren Ex-"Ortskräfte", andere deren Familienmitglieder. Alle sind gescheitert, ja förmlich an der deutschen Bürokratie zerbrochen.
So sagt Najib Paiman, "nichts" sei bislang passiert. Paiman, der diesmal nicht mehr anonym bleiben will, wollte die Mutter seiner Ehefrau nach Deutschland bringen. Denn sie habe vor der Talibanrückkehr mit NGOs gearbeitet. In Programmen für Frauen, auf dem Land. Schon vor den Taliban kein besonders sicherer Job. Nach der Machtübernahme der Taliban musste sie mit ihrer Familie in den Iran fliehen. Dort fehlt es jedoch für afghanische Geflüchtete an Perspektiven.
Das Problem: Ohne ihre Kinder will die Schwiegermutter nicht gehen. Das macht: vier Personen. Für jede einzelne sind sogenannte Sicherheitsleistungen notwendig. Geld, das die Angehörigen in Deutschland haben müssen, um die Menschen notfalls versorgen zu können.
Meine Schwiegermutter reiste in den Iran, um ihre Familie zu schützen. Alleine zu fliehen, das wird sie nicht akzeptieren.
Najib Paiman, Afghane in Bremen
Paiman, ein Mann mit freundlichem Ausdruck und rundem Gesicht, erzählt im Videoanruf mit resignierter Stimme, man hätte pro Person weit über 2.000 Euro netto im Monat verdienen müssen. Für vier Personen: unmöglich, selbst mithilfe von Verwandten. Umso mehr, da die Integration der Afghanen in den hiesigen Arbeitsmarkt nicht im Fokus des Programms stehe und verbessert werden könnte, findet er.
Mehrere Programme
Für Angehörige von in Bremen lebenden Afghanen kam in so einem Fall das Bremer Landesaufnahmeprogramm infrage, das jedoch Sicherheitsleistungen erfordert. Für "Ortskräfte" selbst war das Bundesaufnahmeprogramm zuständig. Teilweise scheiterten die Menschen an beiden. So wie das Ehepaar Mullah*, das den Bruder des Mannes nach Bremen holen wollte. Er hatte für die afghanische Regierung gearbeitet und ist gefährdet, aber ohne Ehefrau und die drei Kinder will er nicht weg. "Das Gehalt reicht nicht aus, um sie zu holen. Das haben sie so schwer gemacht", beklagt Donya Mullah*.
Wenn sie das von Anfang an gesagt hätten… Weil man eine Hoffnung hat und dann ist sie weg. Das ist nicht so schön.
Donya Mullah*, Afghanin in Bremen
Das findet ebenfalls Mohammad Samir Ghafari, ehemalige "Ortskraft", der 2021 evakuiert wurde und nun mit vier Schwestern in einer Gröpelinger Wohnung lebt. Er möchte seinen Bruder und die Eltern nach Bremen holen. "Zwei Jahre habe ich gewartet. Zwei Jahre positives Denken, und dann erhältst du eine negative E-Mail. Das ist inakzeptabel", sagt am Telefon der Ex-Offizier, der jetzt ebenfalls nicht mehr anonym sein will.
Ghafari erklärt, er vermisse sein Heimatland, fühlt sich aber sonst wohl in Bremen. "Ich genieße die Vielfalt und die freundliche Atmosphäre", sagt er. Einen Plan hier hat er bereits: Deutsch lernen als Erstes, an fünf Tagen der Woche sitzt er von 8 bis 13 Uhr in der Volkshochschule bei Radio Bremen, dann seine zwei Bachelorabschlüsse anerkennen lassen, dann einen Job als Bauingenieur suchen. Militärische Disziplin und deutsche Organisation. Doch die Sorgen um seine Familie verlangsamen ihn. "Ich habe gerade sehr viel Stress. Sonst wäre ich mit dem C1-Sprachniveau schneller fertig", sagt er auf bereits gutem Deutsch.
Eine, die es hingegen geschafft hat, ist Amena Rahemy. Rahemy, 31 Jahre alt, sitzt auf einem beigefarbenen Sofa im Wohnzimmer ihrer Bremer Wohnung, an der Wand hängen schwarzweiße Bilder, ein Löwe, eine abstrakte Figur, in einer Ecke glänzt ein Beistelltisch. Sie erzählt mit ernster Miene von einer tagelangen Flucht, die sich eher wie ein Leidensweg anhört. Und von einem Land, das ganz anders und in mehrerer Hinsicht weit entfernt ist von dem ruhigen Zimmer in Bremen.
Rahemy war ebenfalls eine afghanische "Ortskraft". Auf ihrem Lebenslauf stehen die Namen verschiedener westlicher Organisationen, deutscher ebenso. Sie ist in Masar-e Scharif aufgewachsen, der viertgrößten Stadt Afghanistan, halbe Million Einwohner, bekannt für ihre blau schimmernde Moschee.
Am 15. August 2021 gerät Rahemys Welt, so wie sie sie bis dahin kannte, aus den Fügen. Die USA verlassen nach jahrelangem Hin und Her überstürzt das Land. Rahemys Arbeitgeber, die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau, setzt sie auf die Ausreiseliste. Sie muss die Stadt verlassen, nach Kabul. Am Flughafen dort herrscht Chaos. Nach tagelangem Warten, mit großer Mühe und mit viel Glück schafft sie es, einen Flug über Taschkent nach Frankfurt zu bekommen. Von dort geht es weiter nach Bremen.
Kein leichtes Ankommen
Am 23. August 2021 trifft sie hier ein. Dies sollte ein guter Augenblick sein. Ein Gefühl der Erleichterung, der Sicherheit. Doch so leicht ist es nicht. In Afghanistan hat Rahemy einiges gelassen. Freunde, Familie, aber auch ein kleines Unternehmen, einen Job, ein abzuschließendes Studium. Eine Identität, ein Leben. "In einer Woche habe ich alles verloren", sagt sie. Jetzt ist sie alleine, ohne Plan in einem unbekannten Land. Und die Familienmitglieder, die sie zurücklassen musste und wegen ihrer Arbeit nun in Gefahr sind.
Die ersten sechs Monate habe ich Tag und Nacht viel geweint.
Amena Rahemy, ehemalige Ortskraft
Viermal, so erzählt sie, haben die Taliban an die Tür ihrer Eltern geklopft. Das erste Mal hätten sie ihre Homeoffice-Ausstattung zerstört. Das zweite Mal habe ihre Mutter versucht, die Milizen zu überlisten. "Meine Tochter habt ihr bereits mitgenommen, eine Gruppe von euch", sagt sie. Doch die Taliban kamen wieder. Beim vierten Mal "haben meine Eltern verstanden, dass sie das Haus verlassen und sich verstecken mussten."
In der Zwischenzeit hat Rahemy in Bremen beschlossen, dass die Zeit der Trauer zu Ende ist. Sie muss handeln. "Jetzt muss ich aufstehen und etwas machen", sagt sie und beginnt, die Zeit mit Projekten und Initiativen zu füllen. Sie fängt einen Deutschkurs an, macht sich selbstständig, gründet soziale Projekte, bringt afghanischen Mädchen, die jetzt ab der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule dürfen, Englisch und Informatik online bei. "Damit sie ein bisschen Hoffnung haben." Sie nimmt Nebenjobs an, um die Kriterien für die Aufnahme ihrer 15-jähriger Schwester in Deutschland zu erfüllen. Denn eine junge, unverheiratete Frau ist durch die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan besonders benachteiligt.
Rahemys Haupt ist kurz geschoren, die schwarzen Haare nur ein paar Zentimeter lang. In Bremen hat sie sich die Haare rasiert, "weil ich stets das Gefühl hatte, einen Stein auf meinem Kopf zu haben". Kürzlich hätten ihr die Behörden bei einem persönlichen Termin gesagt, dass ihre Schwester eine Zusage bekommen habe. Das Gewicht auf ihrem Kopf sei jetzt um ein paar Kilos leichter, sagt sie.
Nun wünscht sich Rahemy nur, dass die deutsche Regierung ihr Versprechen einhält, die Familien von gefährdeten Afghanen nach Deutschland holt. Später will sie weiter studieren. In Bremen hat sie Freunde gefunden, sogar einen "deutschen Opa", sagt sie und eine Träne läuft ihr über die Wange. Eine Art Zuhause, fern von zu Hause.
Mein Opa war vor einer Woche gestorben, ohne dass ich ihn wiedersehen konnte, und ich habe einen älteren Mann auf einer Veranstaltung getroffen, der ihm ähnelte. Ich habe ihm ein Bild von meinem Opa gezeigt. Er sagte: `Mach dir keinen Stress, ab heute bin ich dein Opa‘
Amena Rahemy, Ex-"Ortskraft"
*Name von der Redaktion geändert.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremens Eins, 25. August 2024, 16:40 Uhr