Eine Bremerin erzählt: Das harte Leben am und im AKW Saporischschja

Natalia aus der Region Saporischschja lebt allein in Bremen. Ihre Eltern sind in der besetzten Heimat – ihr Vater arbeitet im AKW. Das Leben unter Besatzung ist schwierig.

Im März besetzten russische Truppen Natalias* Heimatstadt in der Region Saporischschja – und das Kernkraftwerk Saporischschja, das größte Atomkraftwerk Europas. Natalias Eltern sind noch immer in der besetzten Region. Sie bleiben dort, weil sie sich um ihre Großmutter kümmern müssen, die die schwierige Flucht möglicherweise nicht überleben würde. Ihr Vater arbeitet in dem Kernkraftwerk.

Natalia selbst verließ auch ihren Ehemann, der nicht ins Ausland gehen kann. "Ich bin selbst sehr einsam", sagt sie, "ohne Eltern, ohne Ehemann". Häufig fühle sie sich hilflos, wegen des Krieges, wegen der Besatzung, weil Menschen ohne Licht und Wärme leben müssten und sie nichts dagegen tun kann.

Ich weine, weil ich meine Eltern vermisse und nicht weiß, wann ich sie wiedersehen werde. Ich habe Angst, dass ich nicht mehr zu ihnen kommen kann, wenn die Stadt weiterhin besetzt ist. Meine Großmutter ist schon sehr alt, und plötzlich werde ich nicht mehr zu ihrer Beerdigung kommen können.

Natalia, Geflüchtete aus der Ukraine in Bremen

Schein-Referendum Ende September

Von links: der von Moskau ernannte Leiter der Region Cherson, Wladimir Saldo, der von Moskau ernannte Leiter der Region Saporischschja, Jewgeni Balizkij, der russische Präsident Wladimir Putin (Mitte), Denis Puschilin, der Führer der selbsternannten Volksrepublik Donezk, und Leonid Pasechnik, der Führer der selbsternannten Volksrepublik Luhansk (Archivbild)
Ende September gab es ein Schein-Referendum über den Beitritt der Region Saporischschja zum Territorium Russlands. Bild: dpa | AP/Grigory Sysoyev

Ende September hielten die russischen Besatzungsbehörden in Natalias Heimatstadt ein Schein-Referendum über den Beitritt der Region Saporischschja zum Territorium Russlands ab. Fotos und Videos des Fake-Referendum gingen um die Welt: Bewaffnete russische Soldaten, die von Wohnung zu Wohnung  gingen und Bewohner zwangen, an der Wahl teilzunehmen. In Folge dessen unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin einen Befehl über den Beitritt der Region Saporischschja zu Russland.

Einen solchen "freundlichen Besuch" von bewaffneten Soldaten erhielten auch Natalias Eltern. Der Vater der Ukrainerin war allerdings bei der Arbeit und ihre Mutter öffnete ihnen nicht die Tür. Am nächsten Tag hatten die russischen Soldaten bereits Natalias Großmutter aufgesucht. "Meine Oma war draußen und konnte sich deshalb nicht verstecken. Sie bemerkten sie und forderten sie auf, zu wählen", sagt die junge Frau.

Was glauben Sie, wie entscheidet sich eine 85-Jährige, wenn ihr zwei Soldaten mit Sturmgewehren gegenüberstehen? Ich denke, jeder kennt die Antwort. Denn wenn du nein sagst, können sie dich zur "Klärung" mitnehmen und eine Person kann "versehentlich" verschwinden, das Haus oder Auto könnte niederbrennen. Und das will niemand.

Natalia, Geflüchtete aus der Ukraine in Bremen

Lehrkräfte fliehen aus der Ukraine

Eine ehemalige Lehrerin von Natalia ist spurlos verschwunden. Die 56-Jährige gilt als vermisst. Die Frau wurde aus ihrer Wohnung entführt, sagt Natalia. Das Entführungsvideo wurde von den Kidnappern selbst veröffentlicht, die die Lehrerin darin als gefährliche Aktivistin und Nationalistin darstellen.

Russische Behörden haben jetzt ihre Kindergärten geöffnet, aber Mama will dort nicht arbeiten gehen.

Natalia, Geflüchtete aus der Ukraine in Bremen

Die meisten Lehrkräfte hätten die Stadt verlassen, sagt die junge Ukrainerin. Sie mussten fliehen, da sie nicht mit Russland kooperieren wollten. "Von sieben Schulen in der Stadt wird nur noch an einer gelehrt. Es gibt dort nur wenige Klassen. Ich weiß nicht, was sie dort unterrichten." Natalias Mutter ist Lehrerin. Sie hat ihren Job allerdings verloren. "Russische Behörden haben jetzt ihre Kindergärten geöffnet, aber Mama will dort nicht arbeiten gehen", sagt Natalia.

Codewörter zur Kommunikation

Nach dem Referendum begannen die provisorischen russischen Behörden mit der aktiven Einführung der russischen Währung, des Rubels, und informierten die Einheimischen darüber, dass die ukrainische Griwna nur noch bis zum Ende des Jahres akzeptiert werden würde. Außerdem begannen sie mit der Ausstellung russischer Pässe, die jedoch nicht unter Zwang, sondern auf eigenen Wunsch vergeben werden. So haben laut Natalia fünf Menschen ihre Pässe freiwillig erhalten.

Einheimische, die nicht weggegangen sind, stehen unter Überwachung. Deshalb sind Natalia Eltern im Schriftverkehr mit ihrer Tochter vorsichtig. Es gibt Codewörter, die auf diese oder jene Situation hinweisen. Manchmal informiert Natalia selbst ihre Eltern über die neuesten Nachrichten über die Stadt, in der die Eltern leben.

Ich habe mehr Zugang zu unseren Chats in Telegram, also informiere ich sie über alle neuen Vorschriften der sogenannten Verwaltung, über die Ausgangssperre, was erlaubt ist und was nicht, damit sie sich sicher in der Stadt bewegen können. Ich lege das Telefon nicht aus der Hand. Ich wache morgens auf, wasche mich, koche Kaffee und setze mich sofort hin, um die Nachrichten zu lesen. [...] Dann fange ich an, meinen Tag zu planen, frühstücke und gehe zu den Deutschkursen.

Natalia, Geflüchtete aus der Ukraine in Bremen

Katastrophale medizinische Versorgung vor Ort

Routine-Aufgaben und das Lernen der deutschen Sprache sind die einzigen Dinge, die Natalia helfen, sich irgendwie von den Nachrichten und Gedanken über ihre Heimatstadt abzulenken. Schließlich ist es unmöglich, ein friedliches Leben in Bremen zu führen, solange ihre Eltern besetzt sind. Die besetzte ukrainische Stadt steht am Rande einer humanitären Katastrophe – das haben die ukrainischen Behörden wiederholt erklärt.

Durch den ständigen Beschuss werden die zivile Infrastruktur und die Stromnetze zerstört. Die Stadt bleibt zeitweise ohne Strom- und Wasserversorgung. Es gibt auch keinen ausreichenden Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung. Natalias Mutter kam vor kurzem aus einem Krankenhaus in einer anderen Stadt zurück. Die Frau leidet an einer chronischen Lungenkrankheit, und da es vor Ort keine entsprechenden Ärzte gibt, muss sie in eine andere besetzte Stadt fahren. Dort, sagt Natalia, sei die Situation etwas besser, die Ärzte seien nicht massenhaft abgewandert.

Gefährliches Arbeiten im AKW Saporischschja

Atomkraftwerk Saporischschja im August 2022 (Archivbild)
Natalias Vater arbeitet in einem Kernkraftwerk. Bild: dpa | Smoliyenko Dmytro/Ukrinform/Abaca

Natalias Vater arbeitet im Schichtdienst im Kernkraftwerk. Bis zum ersten Dezember, sagt er, müssten sich alle Mitarbeiter des Kraftwerks entscheiden: kündigen oder einen Vertrag mit der russischen Atombehörde Rosatom unterschreiben.

Natalia erzählt, ihr Vater arbeite unter ständigem Lärm von Explosionen: "Stellen Sie sich vor, Sie leben auf einem Pulverfass, das jeden Moment explodieren kann. Was fühlst du? Es ist sehr gefährlich dort, wegen der Strahlung."

Es sei ein Problem, dass die ukrainische Regierung nicht geklärt habe, was die Menschen in den besetzten Gebieten tun sollen, sagt Natalia. "Wie können sie arbeiten?" Die ukrainische "Energoatom" biete ihnen an, zu kündigen und verspreche, zwei Drittel des Gehalts zu bezahlen. "Aber von diesem Geld kann man nicht leben, die Preise sind absurd." Ein Hering koste 500 Griwna, also 13 Euro, früher höchstens 200 Griwna. "Mein Vater weiß nicht, was er tun soll."

*Name von der Redaktion geändert

Autorin

  • Profilbild von Anna Chaika
    Anna Chaika Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 30. September 2022, 19:30 Uhr