Wie Russlands Krieg Bremer Forschungsprojekte gefährdet
Bremens Hochschulen und Forschungseinrichtungen setzen den Austausch mit Russland seit dem Frühjahr aus. Die Konsequenzen sind nachhaltig, sagen die Betroffenen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine wirkt sich vielfältig auf Bremen aus. Ein Beispiel ist die schon im März gefällte Entscheidung von Uni und Hochschule Bremen, aber auch der Jacobs University, die Beziehungen mit russischen Partner-Einrichtungen zu unterbrechen. Auch das Alfred-Wegener-Institut hat die bis zum Krieg gemeinsam mit russischen Wissenschaftlern in Sibirien betriebene Permafrost-Forschung auf Eis gelegt.
Davon betroffen ist auch AWI-Forscherin Anne Morgenstern, die das Projekt lange selbst vor Ort koordiniert hat. Von der Forschungsstation Samoylov im Delta des Flusses Lena ausgehend, fanden seit mehr als zwei Jahrzehnten von Frühjahr bis Herbst russisch-deutsche Forschungsexpeditionen im größten Naturschutzgebiet des Landes statt. Bis zu 90 Forscher pro Saison hätten so Permafrost-Böden und Gelände untersucht, Tauprozesse beobachtet, Datenreihen erhoben und Prognosen zu Treibhausgasemissionen und Klimawandel entwickelt, sagt Mogenstern.
Abruptes Ende der Kooperation im Eis
"Diese Zusammenarbeit mit russischen, staatlichen Institutionen haben wir jetzt komplett eingestellt", sagt die Wissenschaftlerin.
Das sind massive Einschnitte.
Anne Morgenstern, Polarforscherin am Alfred-Wegener-Institut
Die Folge: Der Zugang zu neuen Daten ist versperrt. "Am größten ist der Verlust bei den seit Jahrzehnten andauernden Langzeitmessreihen, die jetzt unterbrochen sind", sagt Morgenstern. Denn diese Daten lieferten den Hintergrund für die Prozesse und Entwicklungen in der Arktis. "Dort schreitet der Klimawandel fast viermal so stark voran wie im Rest der Welt, was die Temperaturentwicklungen betrifft", sagt die Permafrost-Forscherin. Was ihr, ihren deutschen und internationalen Kolleginnen bleibt, ist nur noch die Auswertung bereits vorhandener Daten und Satellitenfotos.
Und doch hat sie Verständnis für den Kooperationsstopp, den das AWI im Frühjahr verhängt hat. "Das ist der Status quo, der auch von der Wissenschaft gestützt wird", sagt sie. Ganz abgerissen ist der Kontakt zudem nicht. "Wir haben ja über Jahre und Jahrzehnte zusammengearbeitet", sagt Morgenstern. So hätten sich auch Freundschaften entwickelt. "Und die werden weiter gepflegt. Da ist man weiter im Kontakt. Und das ist auch wichtig."
Rückschlag für Analyse autoritärer Regime
Auch für Michael Rochlitz, Volkswirt an der Uni Bremen, hat sich seit dem Frühjahr viel verändert. Er beschäftigt sich seit rund zwei Jahrzehnten mit autoritären politischen Systemen – und wie sie sich auf wirtschaftliche Entwicklungen auswirken. "Mein Fokus liegt auf Russland und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion", sagt Rochlitz.
Von 2013 bis 2017 hat er an der Wirtschaftshochschule Moskau ein entsprechendes Forschungsinstitut mit aufgebaut. Bis zum Krieg hat er darüber hinaus jährliche internationale Fachkonferenzen organisiert – in Hongkong, New York und 2019 auch in Bremen.
Das Institut habe sich zu einem der Besten entwickelt, um das politische System in Russland und auch China zu untersuchen, sagt Rochlitz. "Unter den politischen Veränderungen und dem Krieg haben wir allerdings massiv gelitten."
Neue Forschungsfelder durch Russlands Krieg
Die ersten Mitarbeiter des Instituts seien im Februar dieses Jahres aus Russland geflüchtet. Die zweite Welle folgte im September, als das Regime die Teilmobilmachung verkündete. Den Forscherinnen und Forschern, die jetzt ohne Anstellung und Gehalt dastehen, versucht der Bremer Professor nun zu helfen. Mit Geldern des Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) will er, gemeinsam mit anderen internationalen Forschern, einen "Wissenschafts-Hub" in Russlands Nachbarstaat Kasachstan an der dortigen Nasarbajew-Universität einrichten.
Eins der ersten Forschungsprojekte lautet: Wie wirken sich Flüchtlingsströme in die Staaten Zentralasiens aus? Ein weiteres befasst sich mit der Frage: Was bedeutet der kriegsbedingte Aderlass an geflüchteten Computerwissenschaftlern für Russlands Volkswirtschaft? Eine erste Antwort zeigten Interviews mit den Betroffenen schon jetzt. "In Russland findet gerade ein Braindrain statt", sagt Rochlitz.
Das Land hat sich mit dem Krieg ins eigene Bein geschossen.
Michael Rochlitz, Volkswirt an der Uni Bremen
Dennoch will der der Ökonom die Verbindung zu seinen in Russland verbliebenen Kollegen nicht abreißen zu lassen. "Wir versuchen, die Strukturen am Leben zu halten, damit es irgendwann wieder weitergehen kann."
Uni Bremen nimmt geflüchtete Forscherinnen auf
Dazu ist Rochlitz auch im Austausch mit der Forschungsstelle Osteuropa, die ebenfalls an der Uni Bremen angesiedelt ist. Die dort arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind in besonderer Weise vom Krieg betroffen.
Die allermeisten unserer Kooperationspartner und -partnerinnen sind ohnehin aus Russland ausgereist – aus Angst vor Verhaftung oder Protest gegen Putins Krieg.
Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa
17 geflüchtete Forscherinnen und Forscher aus Russland und der Ukraine arbeiten derzeit in Bremen weiter. Acht von ihnen sind für die Nicht-Regierungsorganisation Memorial tätig. "Obwohl Memorial in Russland verboten ist, gibt es immer noch Mitglieder, die in Russland weiter machen", sagt Direktorin Susanne Schattenberg. Auch mit ihnen bleibe die Forschungsstelle Osteuropa in Kontakt.
Spätestens am 10. Dezember dürfte sich die Welt erneut intensiv mit ihrer Situation befassen. Denn an diesem Tag wird Memorial in Oslo der Friedensnobelpreis überreicht. Und zwar "für die Förderung des Rechts zur Machtkritik und den Schutz der Grundrechte der Bürger sowie für die herausragenden Bemühungen, Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch zu dokumentieren", heißt es in der Begründung des Nobelpreis-Komitees.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 23. November 2022, 19:30 Uhr