Urlaub in Kiew: "Beim Grenzübertritt wurde mir übel von den Emotionen"

Bilderaus dem Ukraine Tagebuch von Anna Chaika.

Tagebuch aus Kiew: Der Weg nach Hause ins Kriegsgebiet

Bild: Radio Bremen

In Bremen lebt Reporterin Anna Chaika seit einem Jahr. Jetzt ist sie für zwei Wochen in ihre Heimatstadt Kiew gereist.Sie schildert ihre Eindrücke von der Fahrt und Ankunft.

Es ist schon ein Jahr, dass ich mein Zuhause verlassen habe: in aller Eile, zum Klang einer Luftangriffssirene und dem Brummen feindlicher Flugzeuge, mit fast keinem Hab und Gut, nur mit meinem Lieblingsteddy Mischa. Jetzt kehre ich zusammen mit Mischa und meinen Eltern endlich für zwei Wochen nach Kiew zurück.

Die Reise mit dem Auto ist lang und schwierig, deshalb wechseln mein Vater und ich uns am Steuer ab. Wir müssen 1.970 Kilometer von Bremen nach Kiew zurücklegen. Wegen Erschöpfung und Anspannung hätten wir fast einen Unfall gehabt; das Glas des linken Außenspiegels zerbricht beim Zusammenstoß mit einer Leitbake. Halt im Baumarkt, mit Klebeband befestigen wir einen zusätzlichen Spiegel am Auto.

Nach dem Spiegel verlieren wir auch noch zwei Radkappen wegen eines tiefes Lochs in der Straße. Oje, das kommt vor... Aber das ist alles nicht so wichtig, denn wir werden bald zu Hause sein. Endlich werde ich in meinem Bett schlafen, Kaffee aus meiner Tasse trinken und ein Bad in meiner Badewanne nehmen.

Viele Menschen fahren über die Grenze

Bilder aus dem Ukraine-Tagebuch von Anna Chaika.
Die Autofahrt nach Kiew ist lang und anstrengend. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Wir fahren durch Polen zum Kontrollpunkt Ustylug. Wir haben beide Grenzkontrollen auf polnischer und ukrainischer Seite ziemlich schnell passiert, innerhalb von vier Stunden. Zwar gibt es nicht viele Menschen, die in ein Land einreisen wollen, in dem Krieg herrscht. Trotzdem fahren viele Menschen hin und her: einige, um einen humanitären Helfer, Wärmebildkameras, Drohnen mitzunehmen, und einige, wie zum Beispiel Olena (39 Jahre), um ihre Lieben zu besuchen. Olena ist genau wie wir am selben Tag abgereist und ebenfalls aus Bremen. Wir trafen sie mit ihrem 5-jährigen Sohn Fedya bereits auf dem Territorium der Ukraine in einem Hotel nicht weit von der Grenze, wo wir für die Übernachtung anhielten. Die Familie will für eine Woche nach Charkiw, Olenas Mann ist beim Militär.

Fotos von Olena und ihrem Sohn Fedya.
Olena (39) und ihr Sohn Fedya (5). Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Der älteste Sohn Yehor blieb in Bremen, er wird bald 18 Jahre alt, deswegen entschied die Familie, dass es für ihn besser wäre, nicht in die Ukraine einzureisen. Wegen der Dienstpflicht dürfte er das Land wahrscheinlich nicht wieder verlassen. Trotz des ständigen Raketenbeschusses in Charkiw hat Olena keine Angst, mit einem kleinen Kind dorthin zu fahren. Wäre der Mann zu Hause geblieben und hätte nicht gekämpft, sagt die 39-Jährige, wären sie schon früher zurückgekehrt. Aber er ist immer im Kriegsdienst. Trotz allem sei es der schönste und emotionalste Moment, ihn zu treffen.

Ankunft unter Tränen

Mein emotionalster Moment war der Grenzübertritt und die Einreise in die Ukraine. Es ist schwer mit Worten zu beschreiben. Mir wurde übel vor Emotionen, und mein Kopf tat weh, und ich fing an zu weinen. Weil ich nach einem Jahr Krieg jetzt ein komplett anderes Leben habe und in meinem Land immer noch Krieg ist, stirbt jeden Tag jemand, damit ich in einem freien Land leben kann.

Bilder aus dem Ukraine-tagebuch von Anna Chaika. Anna Chaika und ihr Vater im Auto.
Anna und ihr Vater wechselten sich mit dem Fahren ab. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Straßensperren, die nicht entfernt werden können, gibt es überall auf dem Territorium der Ukraine. Plakate warnen davor, vorsichtig zu sein und verdächtige Gegenstände nicht zu berühren, da es sich möglicherweise um von den Russen versteckte Minen handeln könnte. Während wir nach Kiew fuhren, spürte ich überhaupt keine Angst, nur totale Müdigkeit. Während unserer Fahrt ertönten in einigen Städten Luftschutzsirenen, aber niemand stoppte den Verkehr.

Wut im Bauch

Bilder aus dem Ukraine-tagebuch von Anna Chaika.
Ein zerstörtes Einkaufszentrum in der Nähe von Kiew. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Als wir uns Kiew nähern, als wir durch Borodyanka und durch Butscha fuhren, wo so viele Ukrainer getötet worden sind, und all die zerstörten Häuser betrachteten – da spüre ich keinen Schmerz, sondern Wut und Hass auf diejenigen, die das Universum dieser Menschen zerstört haben, die einst glücklich in diesen Häusern gelebt haben. Menschen wie ich. Früher gingen Leute wie ich in dieses Einkaufszentrum, um Spielzeug für Kinder zu kaufen. Ein Jahr ist vergangen, aber der Brandgeruch hängt immer noch in der Luft.

Aber wir sind fast zu Hause. Noch ein paar Stunden – und da ist unser Zuhause. Ich frage meine Eltern, wie sie sich fühlten, als sie nach Hause zurückkehrten und all diese verbrannten Häuser sahen. Mein Vater sagt: "Zu viel Zerstörung. Wohin schaut Gott?"

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Dieses Thema im Programm: Bremen Next, Next am Nachmittag, 29. März 2023, 17:40 Uhr