Interview
"Ein Stahlbad der Gefühle": Wie die Bremer das Kriegsende erlebten

Vor 80 Jahren endete in Bremen der Zweite Weltkrieg. Ein Historiker erklärt, welche Ängste und Nöte die Menschen plagten, ob sie sich befreit fühlten – und ob sie Schuld empfanden.
Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht trat am 8. Mai 1945 in Kraft. In Europa endete an diesem Tag der Zweite Weltkrieg – und auch das selbsternannte Dritte Reich der Nationalsozialisten, das Leid und Tod über Millionen von Menschen gebracht hatte, war Geschichte.
In Bremen schwiegen die Waffen schon eher: Bereits in den Morgenstunden des 27. April hatten im Bürgerpark die verbliebenen deutschen Soldaten nach letzten, von vornherein aussichtslosen Gefechten den Kampf eingestellt. Die Stadt kam unter britische, wenig später unter US-amerikanische Besatzung – und die Menschen machten sich zwischen Trümmern, Hunger und Zukunftssorgen an den Neuanfang.
Herr Tilgner, wie erlebten die Bremerinnen und Bremer die letzten Kriegstage?
Durch Radio, Zeitungen und Wehrmachtsberichte wussten die Menschen, dass die Front immer näher rückte. Nach einer etwas ruhigeren Phase nahmen auch die Luftangriffe wieder stark zu. In der ersten April-Hälfte war dann die britische Armee so nah, dass sie mit Artillerie in die Stadt hineinschießen konnte.
Dass man jederzeit auf der Straße getroffen werden konnte, war für die Menschen eine ganz neue Bedrohung. In den Tagen vor der Einnahme saßen sie dann fast nur noch im Bunker. Das war absoluter Horror, Anspannung und Furcht nahmen immer stärker zu, die Menschen waren fix und fertig.
Glaubten manche trotzdem noch an eine Wende im Kriegsgeschehen?
Als die Alliierten die deutschen Grenzen überschritten hatten, war dem Durchschnittsbürger klar, dass der Krieg angesichts der gegnerischen Übermacht verloren war. Aber man wagte es nicht, dies auszusprechen.

Viele wollten auch nicht an eine Niederlage glauben. Sie wurden über die Propaganda ja auch ständig mit Meldungen von Wunderwaffen oder Erfolgen wie der Rückeroberung von Bautzen (die letzte erfolgreiche deutsche Panzeroffensive im Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Red.) konfrontiert. Die Menschen waren noch nicht zum kritischen Denken erzogen – und Leute, die kritisch dachten, haben nichts gesagt.
Was empfanden die Menschen, als der Krieg vorbei war?
Erst einmal überwog die Erleichterung. In Tagebucheinträgen kann man nachlesen, wie erlöst die Menschen waren, dass das Schießen endlich aufgehört hatte. Dass sie die Bomben und Artillerie nicht mehr fürchten mussten, dass sie mit dem Leben davongekommen waren. Doch viele empfanden das Kriegsende auch als Niederlage – und sie hatten weiterhin Angst.
Angst vor den Besatzern?
Ja, wenn auch nur vorerst. Um den Verteidigungswillen zu stärken, hatten die Nationalsozialisten ja immer wieder propagiert: "Wenn die kommen, dann vergewaltigen sie alle Frauen, die fressen euch auf, die nehmen euch alles, was ihr habt." Die Menschen wussten also nicht, was sie erwartet. Allerdings haben sie schnell gemerkt, dass Briten und Amerikaner gar nicht so waren, wie die Propaganda behauptet hatte. Innerhalb weniger Wochen kehrte sich das Bild um.
Erlebten die Menschen das Kriegsende auch als Befreiung?
Das war unterschiedlich. Es gibt britische Filme, die zeigen, wie Menschen in Bremen jubelnd auf die Kameras der filmenden Soldaten zulaufen. Doch die Männer, die auf diesen Bildern jubeln, sind niederländische und französische Zwangsarbeiter – sie sind im physischen Wortsinn "befreit" und sehen vermutlich den jahrelang ersehnten Tag ihrer Rückkehr nach Hause vor sich. Befreit waren natürlich auch politische Häftlinge und andere Verfolgte der Nazis. Deutsche, die in stiller innerer Ablehnung der NS-Gewaltherrschaft gelebt hatten, könnten das Ende ebenso als Befreiung haben.

Aber es gab ja vor allem die große Masse derer, die sich in der von der NDSAP vollkommen überformten Gesellschaft eingerichtet hatten, die Vielen, die sie als Anhänger Hitlers bewusst gestärkt hatten. Sie waren zwar die Bedrohung durch Bomben und Artillerie los. Aber statt des Gefühls von Befreiung beherrschten Unsicherheit und Angst die Köpfe. Wie schon gesagt, "Was werden die Sieger jetzt mit uns machen?“, war die große bange Frage der Stunde – auch für die, die dem Regime innerlich kritisch gegenübergestanden hatten.
Schätzungen zufolge war Bremen nach dem Krieg zu 60 Prozent zerstört. In welchen Verhältnissen lebten die Menschen?
Die Leute mussten stark zusammenrücken. Wenn ein Haus noch heil war, wurden die Menschen darin auf engstem Raum einquartiert. Ich habe mit Zeitzeugen gesprochen, die mit Vater, Mutter, Kind über Jahre in einem Zimmer auf zwölf Quadratmetern gewohnt haben. Und Briten und Amerikaner haben sich natürlich auch in Wohnhäusern einquartiert. Dann mussten die Leute dort raus und bekamen Zimmer in anderen Wohnungen zugewiesen.

Je länger der Krieg zurücklag, desto mehr wurden die deutschen Gräueltaten bekannt. Wie gingen die Bremerinnen und Bremer damit um?
Die Menschen gingen durch ein Stahlbad der Gefühle. Viele wollten die Nachrichten erst gar nicht glauben. Sie hörten die Schilderungen aus den Konzentrationslagern und dachten zunächst, diese seien übertrieben. Natürlich war bekannt, dass es solche Lager gab, und man wusste natürlich, dass Juden abgeholt und nie wieder gesehen wurden. Aber dass diese zu Millionen bestialisch gequält und umgebracht worden sind, das konnte man sich nicht vorstellen – und hat es auch erst geglaubt, als es nicht mehr zu leugnen war.
Hinterfragten die Menschen auch ihre eigene Verantwortung, etwa am Holocaust?
Das ist schwer zu sagen, aber sicher ist, dass die Mehrheit sich gut von solchen Gedanken ablenken konnte. Denn es war ja viel zu tun: Es gab kaum Nahrung, die Läden waren leer oder schnell wieder leer, man musste sehen, wie man an Essen kam. Ständig stand man Schlange, um an Brennstoffe zu kommen, mit denen man kochen und die Wohnung heizen konnte. Da hat man dann über solche Dinge nicht viel nachgedacht.
Wie verbreitet waren Schuldgefühle?
Nach und nach dämmerte es jedem, dass man irgendwie mitschuldig war, wenn man nicht gerade selbst im Visier der Partei gewesen war oder im Gefängnis oder in einem KZ gesessen hatte. Die meisten hatten irgendwie mitgemacht – doch wir heutigen Menschen müssen höllisch aufpassen, wenn wir das verurteilen.
Wie meinen Sie das?
Nur als Beispiel, aber jede Lehrkraft, die ihre Klasse nicht mit dem Hitlergruß begrüßte oder zu sehr humanistische und aufklärerische Ideen vermittelte, stand unter größter Gefahr, sich verdächtig zu machen. Oder wer ausländische Sender hörte – sogenannte Feindsender –, dem konnte unter Umständen die Todesstrafe drohen. Auf allen lastete ein schrecklicher Druck, den wir uns heute nur sehr schwer vorstellen können.
Wie war es für all die Schülerinnen und Schüler, die im Sinne des Hitler-Staates erzogen worden waren? Wie lange dauerte es, bis sie sich von den NS-Idealen befreiten?
Die Erziehung zu Rassenhass und blinder Gefolgschaft kann man nicht so schnell ablegen. In der Schule mussten Erstklässler ganze Seiten vollschreiben mit Sachen wie "Ich bin klein, Deutschland ist groß" oder "Ich bin ein Kind des Führers".
Ich habe mal jemanden kennengelernt, der hat als Jugendlicher die Fackelmärsche bei der Hitlerjugend mitgemacht und dieses Gemeinschaftsgefühl erlebt. Er war ein Teil des Ganzen gewesen und sagte zu mir: "Irgendwie fühle ich mich immer noch auf diesen Eid an den Führer gebunden." Über Jahre haben die das eingetrichtert bekommen, entsprechend lang war das noch in den Köpfen noch drin – auch wenn sie versucht haben, das auszuschalten.
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Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 27. April 2025, 19:30 Uhr