Holocaust-Gedenktag in Bremen: "Man darf nicht weggucken!"
Tausende Zwangsarbeiter arbeiteten am Bunker Valentin in Bremen-Farge – einer von ihnen war Richard Lahmann. Sein Sohn Dirk erzählt uns, warum Gedenktage wie dieser wichtig sind.
Bodentiefe Fenster rahmen den Konferenzraum in der Obernstraße: Ovaler Glastisch, schwarze Lederstühle, Blick über die Dächer Bremens. "Natürlich wusste ich schon früh, dass mein Vater kurz im Straflager interniert war", erzählt Dirk Lahmann. Das Ausmaß dieser Zeit offenbarte sich dem Bremer Anwalt aber erst Jahre später. Denn zuhause hüllte sich Vater Richard in Schweigen. Nur ab und zu habe er etwas durchblitzen lassen, erinnert sich sein Sohn. Zum Beispiel als sie bei einem Bootsausflug am Farger Bunker Valentin vorbei fuhren und er, halb scherzhaft, sagte: "Da ist ja mein Bunker!"
Erst als fast Achtzigjähriger wird Lahmann Senior sein Schweigen brechen und erzählen, was es bedeutete, als Sohn einer jüdischen Mutter in Nazi-Deutschland aufzuwachsen: Er durfte nicht in den Sportverein, seine Freunde zogen sich zurück und nach dem Abitur wurde ihm das Studium verwehrt. Richard schlug sich als Hilfsarbeiter durch, dann wurde der "Halbjude" im Herbst 1944 ins Arbeitslager in Bremen-Farge deportiert. Mehr als 10.000 Zwangsarbeiter waren dort eingesetzt, mindestens 1.700 Menschen kamen in dem Lager ums Leben.
Jahrelang spricht Richard Lahmann nicht über das Erlebte
Wie viele andere NS-Opfer schließt Lahmann Senior die quälenden Erinnerungen an seine Zeit als Zwangsarbeiter weg, spaltet sie regelrecht von sich ab. Er studiert Jura, wird Vorstandsvorsitzender einer Bank und geht in die Politik. Erst 2011, als Mitarbeiter des Bunkers Valentin bei der Suche nach Zeitzeugen auf ihn aufmerksam werden, beginnt er mit der Aufarbeitung.
Und so erzählt er – zögerlich erst – Wissenschaftler Marcus Meyer von dem Erlebten: dem Schmerz des ausgestoßen Seins, den Strapazen und Entbehrungen während seiner Zeit im Arbeitslager und von dem ohnmächtigen Gefühl, der Willkür der Nazis ausgesetzt zu sein. Später wird er es sich zur Lebensaufgabe machen, jungen Menschen von seinen schrecklichen Erlebnissen im Bunker Valentin zu berichten.
[Er] vergrub diesen Schmerz, ließ ihn nur selten sichtbar werden. Sichtbar war stattdessen für uns ein sympathischer, charmanter, humorvoller älterer Herr, der sich (...) mit viel Geduld den vielen Fragen der Schüler*innen stellte.
Marcus Meyer, wissenschaftlicher Co-Leiter Bunker Valentin
Internationaler Gedenktag am 27. Januar
Es sind Erlebnisse wie die Lahmanns, die Millionen Menschen unter der Schreckensherrschaft Hitlers erlitten. Als die Front näher rückt und die ersten Soldaten ihre Wachposten verlassen, gelingt Richard Lahmann die lebensrettende Flucht. Seit 1996 gilt der 27. Januar als Holocaust-Gedenktag. Auch in Bremen wird am Samstag an die Opfer des NS-Regimes erinnert. Rund 70 Veranstaltungen finden in den Wochen vor und nach dem Gedenktag statt: Mit Gottesdiensten, Ausstellungen und Lesungen wird an die erinnert, denen das Gewaltregime so viel Leid brachte wie dem inzwischen verstorbenen Bremerhavener Richard Lahmann.
Für Sohn Dirk ist Erinnerungskultur wichtig, damit die Gräueltaten nicht vergessen werden. Es dürfe nicht geschehen, dass historische Fakten wieder diskutiert werden, sagt er. Dabei sieht er auch die Bremerinnen und Bremer in der Pflicht:
Es gibt eine Bürgergesellschaft in Bremen, die ja auch zur Kenntnis nehmen muss, dass hier in ihren Mauern und ihrer Stadt Dinge stattgefunden haben, an die man ungern erinnert wird. Man darf nicht weggucken!
Dirk Lahmann, Sohn des 2017 verstorbenen Zeitzeugen Richard Lahmann
Wenn nicht jetzt erinnern, wann dann?
Auch Experten wie Marcus Meyer vom Bunker Valentin werden nicht müde zu betonen, wie wichtig Gedenken ist – nicht nur für die Betroffenen selbst. Während sich aktuell viele vom "plötzlichen" Erstarken des Rechtsextremismus überrascht zeigen, beobachtet der Wissenschaftler diese Entwicklung schon lange. Sie habe sich in Form antisemitischer Verschwörungstheorien nicht zuletzt während der Corona-Pandemie gezeigt. "Das alles war nie wirklich weg", sei in den letzten Jahren nur viel sichtbarer geworden, so Meyer. Davon zeugten nicht nur die vermehrten Schändungen von Gedenkstätten und Stiftungshäusern.
Es reiche nicht, die Opfer des Nationalsozialismus lediglich zu betrauern, findet Meyer. Man müsse sich fragen, wie eine Gesellschaft die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung so vieler Menschen überhaupt möglich machen konnte – und warum rechtes Gedankengut auf viele auch heute so anziehend wirkt. Für den Historiker ist klar: "Wenn wir nicht jetzt erinnern, wann dann?"
Reise in die Vergangenheit
Lahmann Senior brach sein jahrzehntelanges Schweigen erst mit fast 80 Jahren. Gemeinsam mit dem Team des Bunkers Valentin tauchte er in seine Vergangenheit ein. So erfuhr auch Sohn Dirk Lahmann erst nach und nach von den Erlebnissen seines Vaters, der sich zu Lebzeiten selbst als glücklichen Menschen beschrieb.
Wer an diesem Bunker Farge war, der hatte tatsächlich nach wenigen Tagen begriffen: Das müsste schon ein gütiges Schicksal geben, wenn du hier lebendig wieder rauskommst. Das waren etwa 3.000 Menschen, die da wirklich wie die Sklaven behandelt wurden und eben dieser schrecklichen Zukunft entgegen vegetierten. So ist das.
Richard Lahmann, Zeitzeuge, 2012 in einem Interview mit Schülern der Bremer Oberschule am Leipnitzplatz
Später erklärte Zeitzeuge Richard Lahmann das innerfamiliäre Schweigen so: "Ich wollte die nicht bedrängen und die mich auch nicht. Und die wissen sehr vieles aber durchaus nicht alles." Sohn Dirk hat heute Verständnis für den Umgang seines Vaters: Was "für mich wirklich bemerkenswert und fast bewundernswert ist, ist dass mein Vater nicht in einem Groll gelebt hat, sondern dass er sich ja auch öffentlich engagiert hat." Heute interpretiert Dirk Lahmann dies als einen Akt der Selbstermächtigung – anstatt Dinge, die ihn betrafen, anderen zu überlassen, habe sein Vater sich eingebracht und gegen Unrecht gekämpft.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Samstagmorgen, 27. Januar 2024, 10:10 Uhr