Interview

Armut in Bremen: "Mindestlohn war Schritt in die richtige Richtung"

Eine Frau sammelt Pfandflaschen aus einem Müllcontainer (gestelltes Symbolbild)
Eine Frau durchsucht einen Müllcontainer nach Verwertbarem: Ein Bild, wie es in Bremen aufgrund verbreiteter Armut häufig zu sehen ist. Bild: dpa | Bildagentur-online/Schoening

Kurz vor der Wahl in Bremen erhebt die Arbeitnehmerkammer Forderungen zum Kampf gegen Armut. Sie stützt sich auf Daten zur sozialen Spaltung. Es gibt aber auch Lichtblicke.

Mehr als ein Viertel aller Bremer ist arm oder läuft zumindest Gefahr, arm zu werden. Weil Armut eine derartig große Rolle im Land Bremen spielt, veröffentlicht die Arbeitnehmerkammer unter dem Titel "Kammer Kompakt" dazu regelmäßig kleine Sammlungen aus wesentlichen Kennzahlen zum kostenlosen Download im PDF-Format.

Die neueste Version zu "Armut im Land Bremen" stammt aus dem Jahr 2020, die nächste Ausgabe ist bereits in Arbeit. Thomas Schwarzer, Experte für Sozialpolitik in der Arbeitnehmerkammer, ist der Autor der Publikation. Wir haben mit ihm über Armut im Land Bremen gesprochen und auch darüber, wie es besser werden könnte.

Herr Schwarzer, welches Ergebnis Ihrer Recherchen zur Armut im Land Bremen hat Sie 2020 am meisten erschreckt?

Dass die bereits 2017/2018 hohe Quote der Armutsgefährdung im Land Bremen von etwa 23 Prozent bis 2020 noch weiter gestiegen ist: auf über 28 Prozent. Anders gesagt: Schon vor Corona und vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine und den folgenden Flüchtlingsbewegungen hatte die Armut bei uns zugenommen. Das betrifft allerdings nicht nur Bremen und Bremerhaven, sondern einige deutsche Städte. 

Armutsrisiko, Mindestsicherung und Arbeitslosigkeit im Land Bremen

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Mit Armutsquote bezeichnen wir in unserer Grafik in Kurzform die "Armutsgefährungsquote". Diese gibt an, wie hoch der Anteil der armutsgefährdeten Personen an der Gesamtbevölkerung ist. Als armutsgefährdet gilt, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen muss.

Die Mindestsicherungsquote stellt den Anteil der Empfänger von Sozialhilfe zur Grundsicherung an der Gesamtbevölkerung dar. Außerdem fließen hier Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein.

Hat sich dieser Trend nach 2020 weiter fortgesetzt?

Nein, überraschender Weise nicht, zumindest nicht bis Dezember 2021. Das wird sich auch aus dem "Kammer Kompakt 2023" zum Thema Armut ergeben, dass wir demnächst vorstellen werden. So viel vor weg: Anders, als vielleicht erwartet, lag die Armutsgefährdungsquote im Land Bremen auch im Dezember 2021 bei 28 Prozent, ist also verglichen mit 2020 in etwa gleich geblieben. 

Sie stellen auch fest, dass die soziale Spaltung Bremens, also der Abstand zwischen den ärmeren und den reicheren Stadtteilen – anders als vor Corona – zuletzt etwa gleich geblieben ist…

Stimmt. So beobachten wir bis Dezember 2021 zum Beispiel keine weiter steigende Konzentration beim Bezug der SGB II-Leistungen in den ärmeren Stadtteilen gegenüber den wohlhabenden.

Zum Hintergrund: Die SGB II-Quote, also die Quote der einstigen Hartz IV- und heutigen Bürgergeld-Empfänger, ist für uns gewissermaßen so etwas wie die geprüfte Armut. Denn ehe jemand Hartz IV bekam oder heute das Bürgergeld bekommt, wurde und wird er genau überprüft.

Der Anteil der Unter-15-jährigen, die einen Anspruch auf Sozialhilfe haben, gilt Sozialforschern als besonders aussagekräftiger Indikator für Armut. In den Bremer Ortsteilen Blumenthal, Grohn, Ohlenhof und Gröpelingen hatten 2021 über die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen einen Anspruch auf Sozialleistungen. Zahlen für die einzelnen Ortsteile in Bremerhaven liegen nicht vor.

Unter-15-jährige SGB II-Leistungsberechtigte in der Stadt Bremen nach Ortsteil

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Worauf führen Sie zurück, dass sich die soziale Spaltung zwischen den Stadtteilen Bremens, anders als bis 2020, trotz der Wirtschaftskrise nicht weiter verschärft hat, wie sonst meist in Krisenzeiten?

Eine Erklärung ist, dass in der Corona-Krise und in der Inflation gerade auch Haushalte mit wenig Geld Unterstützung durch verschiedene Hilfsprogramme vom Bund erhalten haben. Für uns als Arbeitnehmerkammer ist zudem der Hinweis wichtig, dass wir hier auch schon erste Auswirkungen der schrittweisen Anhebung des Mindestlohns auf inzwischen 12 Euro sehen.

Der Mindestlohn kommt in den ärmeren Stadtteilen direkt an. Dort lebten viele Geringverdiener, "Aufstocker" und Alleinerziehende. Sie müssen Sozialleistungen für sich, oder zumindest für ihre Kinder beantragen, um über die Runden zu kommen. Dank des Mindestlohns sind nun zumindest einige davon offenbar nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen.

Wie sieht es in Bremerhaven aus? Bewegen sich die Stadtteile hier in puncto Wohlstand eher aufeinander zu oder voneinander weg?

Naja, so richtig messen kann man das nicht. Auch fehlen uns auf Stadtteilebene leider neuere Daten aus Bremerhaven. Was wir wissen, ist, dass die Quote der Armutsgefährdeten in Bremerhaven noch höher liegt als für das Land Bremen: bei 33 statt bei 28 Prozent.

Außerdem beobachten wir deutschlandweit seit einigen Jahren, dass sich die unteren Einkommen von den mittleren weiter entfernen. Das betrifft viele Menschen in Bremerhaven. Dort sind einige Branchen, in denen wenig verdient wird, stark vertreten. Im Hafen, in der Logistik und im Transportwesen arbeiten neben gut bezahlten Arbeitskräften auch viele schlecht bezahlte Hilfskräfte. Das gilt auch für die Gastronomie und den Einzelhandel.

Bremen wählt am 14. Mai eine neue Landesregierung. Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach unternehmen, um Armut im Land Bremen zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass die soziale Spaltung zwischen den Stadtteilen kleiner wird?

Zunächst einmal: Die Quote der Armutsgefährdung im Land Bremen liegt bei 28 Prozent. In vergleichbaren Städten, in denen auch viele Menschen in Armut leben, liegt sie bei rund 20 Prozent. Diese 20 Prozent müsste Bremen auch anpeilen.

Die Anhebung des Mindestlohns war aus unserer Sicht ein erster Schritt in diese Richtung. Jetzt muss es Bremen schaffen, dass wieder deutlich mehr Menschen bei uns nach Tarif bezahlt werden. In Bremen sind diverse Beschäftigungsprogramme aufgelegt worden, einige durch die Bundesanstalt für Arbeit, andere durch Landesprogramme, also mit eigenem Geld. Solche Programme, die in Quartieren ansetzen und die Leute vor Ort in Arbeit oder in Maßnahmen zur Weiterbildung bringen, müssen weitergeführt und ausgeweitet werden.

Außerdem muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Bremen leichter werden. Wir haben zu wenig Frauen, beziehungsweise Mütter in Bremen im Arbeitsmarkt – weil sie entweder nicht die passenden Betreuungszeiten für ihre Kinder in der Kita finden oder gar keinen Kitaplatz für ihr Kind haben. Die Folge ist, dass diese Mütter nicht oder nur eingeschränkt arbeiten können.

Wenn wir mit dem Ausbau der Kinderbetreuung vorankommen, entlastet das die Familien. Dann können mehr Mütter und auch Väter arbeiten und die Familien erzielen insgesamt höhere Einkommen.

Thomas Schwarzer, Referent für kommunale Sozialpolitik der Arbeitnehmerkammer

Schließlich müssen wir dafür sorgen, dass mehr Menschen zu einem Ausbildungsabschluss kommen. Er schützt am besten vor Arbeitslosigkeit und Armut. Leider haben wir derzeit immer noch zu viele junge Menschen, die über keinen Berufsabschluss verfügen.

So lief die fünfte Bremer Armutskonferenz ab

Bild: Radio Bremen

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 28. März 2023, 19:30 Uhr