Bremer Europa-Politiker Schuster lehnt "massive Aufrüstung" der EU ab
Krieg oder Frieden: Wohin steuert Europa? Das war die Frage beim Wahlmobil in Bremerhaven. Politiker, Experten und Schüler diskutierten – hier die wichtigsten Aussagen.
Um die Zukunft und die Sicherheit Europas ging es am Donnerstag im Wahlmobil von buten un binnen zur Europawahl. Moderatorin Anja Goerz und ihr Team sind dieses Mal nach Bremerhaven gefahren. Im Apollo debattierten Politiker und Politikerinnen, Experten und Schüler unter Leitung Goerzs über Ausrüstung, Frieden und den Krieg an Europas Grenze. Diese waren die wichtigsten Aussagen:
1 Eine EU-Armee
Bedarf es einer Armee der Europäischen Union, um den Frieden in Europa zu sichern? Diese Frage treibt gerade europäische Politiker sowie Bürger um. Die Mehrheit der Bremer Meinungsmelder hat dazu eine klare Haltung: Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich sowohl eine engere Kooperation bei der Verteidigung als auch die Entstehung einer europäischen Armee. Etwa ein Viertel der Meinungsmelder lehnt ein Heer auf EU-Ebene hingegen ab.
Die Frage einer gemeinsamen Verteidigung sei gerade in EU-Kreisen prominent, bestätigt der scheidende EU-Abgeordnete Joachim Schuster (SPD). Es sei eine "Zeitenwende", die gerade stattfinde.
Für die Vorsitzende der Europa-Union und Grünen-Politikerin Helga Trüpel ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine "noch größer geworden". Schuster findet jedoch eine massive Aufrüstung der EU "nicht zielführend" und plädiert dafür, das diplomatische Potenzial der EU auszunutzen.
Nicht nur militärisch die Ukraine unterstützen, sondern auch über diplomatische Initiativen versuchen, diesen Krieg zu beenden, denn siegen wird in diesem Krieg keiner.
Joachim Schuster, SPD-Politiker
Für den Universitätsprofessor Klaus Schlichte ist zudem nicht absehbar, wie eine EU-Armee in kurzer Zeit entstehen soll. Dem stimmt Trüpel zu. "Ich kann mir im Moment auch so schnell keine europäische Armee vorstellen." Davor gäbe es viele Fragen zu klären.
Oberst Andreas Timm merkt an, dass eine EU-Armee einen Abtritt von Souveränitätsrechten bedeuten würde. "Die Frage ist: Möchten wir das?" Werner Begoihn von der Friedensinitiative "Mut zum Frieden" äußert zudem die Sorge, dass eine Aufrüstung auch andere Länder zur Aufrüstung motivieren könnte, ob diese finanziell leistbar sei – und auf welchen Kosten.
2 Beziehung zu NATO und Ukraine-Krieg
Oberst Andreas Timm findet, die NATO sei "unser Sicherheitsgarant". Man müsse in Europa eine "glaubwürdige Abschreckung" herstellen können. Trüpel glaubt ebenfalls, auf die Bedrohung durch Putins Angriff könne man nur im Bündnis mit der NATO antworten. "Alleine können wir das kurzfristig und mittelfristig nicht."
Dem stimmt Schuster zu. Projekte wie eine gemeinsame Luftabwehr mehrerer Länder seien sinnvoll. Aber, fügt der Politiker hinzu, man könnte auch über Abrüstung und Rüstungskontrolle reden. Was zunächst "völlig utopisch" klinge, räumt er ein. Die Entspannungspolitik habe jedoch auch mit der Kubakrise angefangen.
Professor Schlichte wirft in die Runde, Kriege entwickelten eine eigene Dynamik. Je früher die Gewalt und das Schießen aufhörten, desto größer die Chance, eine Lösung zu finden. Eine Waffenruhe sei deshalb wünschenswert. In der Debatte zudem oft übersehen: das Sicherheitsdilemma.
Rüstung kann Sicherheit befördern, aber auch Unsicherheit schaffen. Weil die Gegenseite jeden Rüstungsschritt als Verunsicherung empfindet und ihrerseits mit Rüstung antwortet.
Klaus Schlichte, Professor für internationale Beziehungen
3 Wehrpflicht: ja oder nein?
Fast 60 Prozent der Meinungsmelder befürworten eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Schließlich ist ein Hindernis zur Aufrüstung und einer eventuellen EU-Armee genau der Personalmangel.
Schüler Simon Blume vom Gymnasium Lilienthal und seine Klasse wären in so einem Fall unter den Gemusterten. Das Thema sieht er kritisch. "Es gibt Pro und Kontra." Einerseits eine Auffrischung der Bundeswehr, andererseits Widerstand seitens von Menschen, die gegen Gewalt sind. Die Lösung könnte die Einführung einer Dienstpflicht sein: Wer nicht an der Waffe dienen will, betätigt sich im sozialen oder Pflegebereich. Oberst Timm befürwortet den Vorschlag.
Ich bin da eher auf seiner Linie, gebe ich zu. Ich könnte mir vorstellen, junge Männer, Frauen, divers, alle Gruppen zu erreichen.
Oberst Andreas Timm
Laut dem Soldat müsse eine Entscheidung jetzt getroffen werden, um sich dafür aufzustellen. Vor allem, wenn man in fünf bis acht Jahren kriegstüchtig sein wolle, um eine Abschreckung darzustellen. Ziel der Bundeswehr ist es, auf mindestens 203.000 Stellen zu kommen.
Die CDU hatte eine sogenannte "Kontingentwehrpflicht" vorgeschlagen: Ein Jahrgang wird gemustert und dann nur so viele Menschen eingezogen, wie es nötig ist. Das findet Schuster problematisch. Es entspreche nicht der Wehrgerechtigkeit, so der Politiker. Für Trüpel müsse man zunächst diskutieren, welches Personal und welche Ausstattung benötigt werden, um als Abschreckung zu dienen.
Überall explodierende Konflikte, wie wir es jetzt haben, das ist furchtbar. Unser gemeinsames Interesse geht dahin, dass es anders wird. Aber verteidigungsfähig müssen wir schon sein.
Helga Trüpel, Vorsitzende der Europa-Union und Grünen-Politikerin
4 Zustand der Bundeswehr und Ausrüstung
Aus dem Publikum kommt die Frage der Kriegstauglichkeit der Bundeswehr. Oberst Timm antwortet, es sei auch eine Frage der Zeit, da die Bundeswehr drei Jahrzehnte lang eine ganz anderen Art von Aufträgen gehabt habe. Es geht dabei etwa um Ausrüstung und Munitionsbeschaffung. Friedensaktivist Begoihn wirft ein, ein früheres Abkommen zwischen Russland und der Ukraine wäre für die Menschen wünschenswerter gewesen als eine Wartezeit von sieben, acht Jahren im Krieg.
Natürlich kann ich Leute verstehen, die sagen: 'Der Putin hat es angefangen und jetzt wollen wir nicht, dass er damit durchkommt.' Nur manchmal müssen wir uns im Leben auf Sachen einlassen, die uns nicht passen, um andere Nachteile zu vermeiden.
Werner Begoihn, Initiative "Mut zum Frieden"
Oberst Timm sieht eine konkrete Gefahr eines Angriffs Russlands auf die NATO in etwa fünf bis acht Jahre, sollte Putin sehen, dass er "mit Gewalt Grenzen verschieben kann". Im Fall eines hybriden Angriffs, etwa Stromausfälle und Hackerangriffe, sei Europa "nicht gut genug aufgestellt", urteilt Trüpel.
Laut Forscher Schlichte führten zunehmende Aufrüstungen zu mehr Rüstungsexporten, um die Kosten zu senken. Diese Nebeneffekte müsste man berücksichtigen. Er plädiere eher für multilaterale Initiativen mit Ländern wie China, Mexico, Brasilien, Südafrika, um durch Diplomatie die Spannungen im internationalen System aufzulösen. Schuster (SPD) merkt an, dass momentan die EU-Natostaaten etwa dreimal so viel für militärische Zwecke ausgeben als Russland. "Wo ist also der Zwang, dass wir pauschal mehr haben müssen?"
5 Wie sieht die Zukunft Europas aus?
"Ich habe auch keine Glaskugel", sagt Professor Schlichte über die Zukunft Europas. Er wünsche sich jedoch, dass es irgendwann möglich sein wird, Konflikte auszutragen durch internationale Prozeduren und ohne Einsatz des Militärs. Oberst Timm wünscht sich hingegen, dass Europa seinen Platz in der globalisierten Welt findet und nicht marginalisiert wird.
Für Trüpel wird Europa "alles daran setzen, den Frieden aufrechtzuerhalten, die Aggressoren in die Schranken zu weisen und den Klimawandel zu bekämpfen". Friedensaktivist Begoihn hält es für möglich, dass der Westen dazu kommt, vernünftige Übereinkommen mit Russland zu treffen. Für Schuster hängt indes alles davon ab, wie man die jetzigen, globalen Herausforderungen bewältigt. Er fragt: "Schaffen wir es, nicht in eine militärische Konfrontationslogik allein reinzukommen, sondern kriegen wir eine Kooperationslogik hin?"
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 24. Mai 2024, 19:30