Abschied nehmen ist Teil des Jobs: Arbeiten als Mutter auf Zeit

Diese Bremerinnen sind Mütter auf Zeit für Pflegekinder

Bild: Radio Bremen

Wenn das Jugendamt Kinder aus Familien nimmt, landen sie oft in einem Heim. Für eine engere Betreuung können sie in Bremen für begrenzte Zeit auch bei "Müttern auf Zeit" unterkommen.

Das Herrmann-Hildebrand-Haus in Bremen Oberneuland kümmert sich um Kinder, für die es besser ist, wenn sie nicht bei ihren leiblichen Eltern leben. Häufig sind sie dort Gewalt ausgesetzt gewesen. Das Jugendamt hat reagiert und die Kinder den leiblichen Eltern weggenommen. Das Hermann-Hildebrandt-Haus hat jetzt sogenannte Außenstellen geschaffen. Sozusagen: Mütter auf Zeit. Das heißt: Kinder kommen in Ersatzfamilien, wenn sie besonders hohen Bedarf an Betreuung und Förderung benötigen. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten.

Claudia Tiedemann ist gelernte Kinderkrankenschwester. Rund 22 Jahre hat sie in verschiedenen Bremer Krankenhäusern gearbeitet. Seit Mai arbeitet die 44-Jährige als sogenannte Mutter auf Zeit. Das heißt: Claudia Tiedemann nimmt Kinder in ihre Familie auf. Zwei waren bereits bei ihr. Aktuell kümmert sie sich um Alex*. Der vierjährige Junge hat in seiner leiblichen Familie Gewalt erfahren, schildert uns Claudia Tiedemann.

Gewalterfahrungen in der leiblichen Familie – das Jugendamt schreitet ein

Natürlich ist es wichtig, dass ich die Geschichte der Kinder kenne und mich damit auseinandersetze, aber ich sehe einfach, dass die Kinder, wenn sie hier sind, eine schöne Zeit bei uns haben können und das ist auch mein Ziel: ich möchte den Kindern hier eine schöne Zeit bereiten. Denn sie haben viel Mist erlebt.

Ein Porträt von Claudia Tiedemann
Claudia Tiedemann, "Mutter auf Zeit"

Auch Alex hat viel Mist erlebt. In seiner leiblichen Familie war er immer wieder Gewalt ausgesetzt. Das Jugendamt hat reagiert. Es erfolgte eine sogenannte Inobhutnahme. Alex ist zunächst in das Hermann-Hildebrandt-Haus in Bremen Oberneuland gekommen. Ulrich Kenkel ist Diplom Sozialpädagoge. Er leitet seit sechs Jahren die Einrichtung und beobachtet eine größere Nachfrage: "Die Situation ist durchaus angespannt – ich glaube auch, dass es einen steigenden Bedarf an Plätzen im Rahmen der Inobhutnahme gibt."

Kinder im Alter von null bis 14 Jahren werden aufgenommen. Es gibt rund 30 stationäre Plätze im Hermann-Hildebrand-Haus. Neu sind die sogenannten Außenstellen. Ulrich Kenkel beschreibt die Außenstellen als eine Art "Heimplatz mit Familienanschluss." Dabei betont er: "Die Inobhutnahme-Außenstellen sind komplett in unsere Strukturen eingebunden: Das ist vor allen Dingen der Medizinische Dienst, aber auch Psychologie, Heilpädagogik – Wir brauchen für einige Kinder, vor allem für ganz kleine, andere Betreuungsformen außerhalb des Schichtdienstes."

Die Aufnahme von Pflegekindern – jede Menge Konfliktpotential für die eigene Familie

Und die bekommt Alex jetzt in der Familie von Claudia Tiedemann. Dazu zählen Ehemann Thomas und der leibliche Sohn Claas. Ein Pflegekind aufzunehmen ist eine große Herausforderung für die ganze Familie. Dieses Konfliktpotential war Claudia Tiedemann von Anfang an bewusst: "Es sind Kinder, die ganz viel brauchen, ganz viel Aufmerksamkeit ziehen und dann ist natürlich weniger Aufmerksamkeit da für die Familienmitglieder, die bisher da waren. Und ja, die fühlen sich manchmal zurückgesetzt, nicht ausreichend beachtet, ich wäre nur noch für das neue Kind da, für das Pflegekind."

Eine Familie spielt mit einem Pflegekind Memori
Für die acht Wochen wird Alex in die Familienaktivitäten eingebunden – "Mama" nennt er Claudia Tiedemann aber nicht. Bild: Radio Bremen

Seit 2007 sind Claudia und Thomas Tiedemann verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn Claas ist 11 Jahre alt. Auch für ihn ist es eine Umstellung: "Es war komisch hier, auf einmal noch ein Kind zu haben, weil es nimmt auch ein paar Spielsachen in Beschlag."

Der Alltag der Familie Tiedemann hat sich durch die Aufnahme von Alex verändert. So beschreibt es auch Ehemann Thomas Tiedemann: "Es ist eine Person mehr natürlich und es ist alles anders: der Werdegang hier zu Hause, mit morgens Frühstücken, Mittag, Abendbrot, nachts wieder aufstehen, mal eben gucken."

Durch den neuen Job ist Claudia Tiedemann fast nur noch zu Hause und kümmert sich um ihr Pflegekind Alex. Umso wichtiger ist es, auch mal rauszukommen. Oft trifft sie sich im Bremer Bürgerpark mit ihrer Freundin Katja Busch. Es gibt viele Parallelen. Auch Katja Busch hat über 30 Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet. Jetzt ist sie ebenfalls für das Hermann-Hildebrand-Haus im Einsatz. Als Mutter auf Zeit kümmert sie sich um den sechs Monate alten Mike*: "Ich bin immer gerne Kinderkrankenschwester gewesen, bin ich auch noch, aber man hat ja auch so wenig Zeit für die Kinder und das ist jetzt auch sehr schön, dass ich jetzt unglaublich viel Zeit für ihn habe und mich ihm ganz widmen kann, das ist sehr schön."

So viel verdient man als sogenannte "Mutter auf Zeit"

Aber es ist auch ein Full-Time-Job. Rund um die Uhr müssen die Pflegemütter für ihre Kinder da sein. Dabei gibt es folgende Rahmenbedingungen: Das Gehalt liegt im Durchschnitt bei 4.500 Euro brutto pro Monat – je nach Berufserfahrung und Vorqualifikation. Hinzu kommen 150 Euro pro Monat für das Zimmer, in dem das Kind bei der Familie lebt. Zusätzlich gibt es 500 Euro für Verpflegung, Kleidung und Fahrtkosten des Kindes.

Außerdem hat die Pflegemutter Anrecht auf 35 Tage bezahlten Urlaub pro Jahr und eine Vertretung im Krankheitsfall wird garantiert. Von der jahrelangen Arbeit im Klinikum profitiert jetzt auch Claudia Tiedemann als Pflegemutter: "Dadurch, dass wir eben die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester haben, können wir auch kranke Kinder betreuen. Zum Beispiel: Kinder mit Diabetes, Epilepsie, Kinder mit Downsyndrom."

Lebenslange Behinderung nach Schütteltrauma

Das Kind, um das sich Katja Busch aktuell kümmert, ist behindert. Mike ist in seinen ersten Lebenswochen von seinen leiblichen Eltern massiv geschüttelt worden. Das hat zu körperlichen und geistigen Schäden geführt. Eine große Herausforderung für Katja Busch: "Er hat Krampfanfälle durch die Hirnschädigung, die er erlitten hat. Ich muss immer in Habachtstellung sein, um zu gucken, wird es schlimmer, geht es so vorbei, muss ich eingreifen mit Medikamenten, oder müssen wir vielleicht sogar in die Klinik fahren."

Ebenfalls eine große Herausforderung ist es, wenn der Abschied von den Kindern bevorsteht. Denn Claudia Tiedemann und Katja Busch sind eben nur Mütter auf Zeit. Claudia Tiedemann spricht Alex deshalb auch mit ihren Vornamen an: "Er nennt mich Claudia und das ist mir persönlich auch wichtig, dass ich nicht 'Mama' genannt werde, weil a): Er hat eine Mama und b): wenn ich ein Kind habe, dass Mama zu mir sagt, fällt mir der Abschied vielleicht noch schwerer. Also, das ist einfach auch so eine Schutzfunktion für mich."

Die Pflegefamilien werden eng begleitet von den Verantwortlichen des Hermann-Hildebrand-Hauses. Auch der Leiter Ulrich Kenkel ist eingebunden. Er betont, dass dabei auch Hausbesuche und psychologische Beratung im Fokus stehen: "Insofern ist es natürlich wichtig, dass Frau Tiedemann, aber auch insgesamt im Rahmen dieser Außenstellen darauf geachtet wird, dass die Bindung nicht zu eng wird, weil die Trennung steht bevor."

Leben in einer Familie – für acht Wochen

Rund acht Wochen bleiben die Kinder in den Pflegefamilien. Das ist das Konzept von Mutter auf Zeit. Eine Trennung hat Familie Tiedemann bereits hinter sich. Die ist auch Sohn Claas Tiedemann an die Nieren gegangen: "Das ist schwer, weil man gewöhnt sich an ein Kind und dann ist es auf einmal wieder weg."

Es soll eine professionelle Distanz sein, aber das ist schwierig, finde ich, weil dieses Kind ja Mitten in meiner Familie lebt und praktisch behandelt wird, wie ein eigenes Kind – aber ich habe immer im Hinterkopf: dieses Kind geht wieder.

Ein Porträt von Claudia Tiedemann
Claudia Tiedemann, "Mutter auf Zeit"

Bald steht der Abschied von Alex an. In drei Wochen ist es soweit, dann wird ein Platz für ihn frei in einer stationäre Einrichtung. Bei dem Gedanken daran, wird Claudia Tiedemann schon jetzt emotional.

Professionelle Distanz, damit der Abschied nicht zu schwer fällt

Claudia Tiedemann pflegt ein besonders Abschiedsritual: "Wir geben den Kindern zum Beispiel, wenn sie bei uns waren auch ein kleines Fotobuch mit – die Fotos machen wir, wenn wir gemeinsame Aktivitäten haben, schöne Momente und dann wird was dazu geschrieben, das hast Du bei uns besonders gerne gemacht, das hast Du besonders gerne gegessen – weil diese Kinder ja vielleicht irgendwann fragen: Wo war ich denn in der ganzen Zeit, in der ich aufgewachsen bin und so kann ich sagen: für die Zeit, in der die Kinder bei uns waren, können sie sehen, wo sie waren.“

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.

Mehr zum Thema:

Autor

  • Porträt von Jörn Michaelis
    Jörn Michaelis Autor

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 22. August 2024, 19:30 Uhr