Perspektivwechsel: Wie Bremer Obdachlose die Stadt wahrnehmen

Eine obdachlose Person liegt schlafend auf dem Bürgersteig, eine Person läuft vorbei (Archivbild).

Perspektivwechsel: "Die Gesellschaft verschließt bei uns die Augen"

Bild: dpa | Roland Mühlanger/APA/picturedesk.com

Gewalt, Drogen und Verdrängung: Bei dieser Tour lernen Bremer die Stadt aus der Sicht von Obdachlosen kennen. Geführt von einem Menschen aus der Szene.

Es regnet in Strömen, als sich die kleine Gruppe um die Männer in den roten Westen am Elefantendenkmal des Nelson-Mandela Platzes schart. Etwa 25 Menschen unterschiedlichen Alters klammern sich an ihre Regenschirme und lauschen gebannt über die Kopfhörer des Audiosystems.

Ein Mann mit Basecap steht vor einem Rolltor und blickt in die Kamera.
Daniel kommt gebürtig aus Berlin, dem "Stadtteil von Sido", wie er erzählt. Bild: Radio Bremen | Laura Lippert

In der Mitte Daniel. Er erzählt seine Lebensgeschichte: Bereits mit zwölf Jahren sei er das erste Mal von zu Hause abgehauen, habe sich in Berlin einer Gruppe von Straßenkindern angeschlossen – Kriminalität sei der Alltag gewesen, Drogen probierte er schon früh, mit 16 Jahren rutschte er dann in die Heroinabhängigkeit. Daniel ist nun seit zehn Jahren substituiert, nimmt täglich Methadon und lebt seit anderthalb Jahren ohne Rückfall.

Gemeinsam mit Reinhard Spöring, in der Szene nur bekannt als "Cäsar", mache er seit zwei Jahren die Perspektivwechseltouren. Hier können Menschen Bremen von einer ganz anderen Perspektive wahrnehmen: aus der Sicht von Obdachlosen.

Touren werden seit sechs Jahren angeboten

2 Männer der Gruppe "Perspektivwechsel" stehen auf einem Parkplatz.
Reinhard Spöring, genannt "Cäsar" und Daniel leiten mehrere Touren im Monat. Bild: Radio Bremen | Laura Lippert

Etwa 70 solche Touren leiten die beiden pro Jahr. Dahinter steckt die Zeitschrift der Straße (ZdS). Die Zeitung wird in Bremen von Obdachlosen verkauft und gehört zur Inneren Mission. Zielgruppe seien laut Spöring in erster Linie Schulklassen, aber auch FSJler, Pflegekräfte oder Justizvollzugsbeamte. Zum 175-jährigen Jubiläum des Vereins für Innere Mission gibt es nun auch drei Führungen, bei denen sich Privatpersonen kostenlos anmelden können. Eine Teilnehmerin ist Clarissa Korte, sie ist 23 Jahre alt und Sozialarbeiterin. "Die Personen, um die es hier geht, gehören quasi zu meinem Arbeitsalltag. Doch oft ist ihr Alltag immer noch sehr weit weg von meinem, ich merke einfach, dass ich vieles nicht nachvollziehen kann", so Korte.

Spöring macht diese Touren seit sechs Jahren. Vor Daniel hat er sie mit Stefan geleitet, der von Crack abhängig wurde und verstarb. Spöring selbst war eigentlich Vertriebler und rutschte in die Alkoholabhängigkeit. Nach seinem Entzug und der Therapie begann er ehrenamtlich bei der Inneren Mission zu arbeiten und ist inzwischen Vertriebschef der ZdS.

Obdachlose in Bremen auf der Straße und in Unterkünften Obdachlose in Bremen ~600 Obdachlose insgesamt * ~150 auf der Straße * ~450 in Unterkünften * Quelle: Sozialressort Bremen

Die beiden Männer führen die Gruppe durch das Bremer Bahnhofsgebiet – vom Kolonialdenkmal über den ehemaligen Szenetreff am Gustav-Deetjen-Tunnel – zeigen, wo Wohnungslose Hilfe finden oder wo die Personen auf Klo gehen.

Überlegt mal: ein Toilettenbesuch kostet ein Euro im Bahnhof. Wenn man etwa sieben Mal pro Tag auf die Toilette geht, sind das bereits sieben Euro. Das ist den meisten zu teuer.

Ein älterer Mann sitzt in einem Büro und blickt in die Kamera.
Reinhard "Cäsar" Spöring, Guide der Perspektivwechseltour

Die Tour soll aufklären über die Verhältnisse und Probleme, mit denen Menschen in Bremen leben, an denen viele im Alltag achtlos oder verängstigt vorbeigehen. Daniel ist dabei, damit die Teilnehmer nicht nur über sondern auch mit ihnen sprechen. Er lebt inzwischen mit seiner Familie in der Neustadt. Das Verhältnis hat sich nach seiner schwierigen Jugend wieder gebessert. Geduldig und mitteilungsbereit beantwortet er die neugierigen Fragen der Tour-Teilnehmern. "Für mich ist das nicht unangenehm", so der gebürtige Berliner.

Ich finde es wichtig, gerade jungen Leuten zu zeigen: auch Obdachlose sind Menschen.

Daniel, Guide der Perspektivwechseltour

Alltag ist oft gefährlich

Denn Anfeindungen, Bedrohungen und auch körperliche Angriffe gehören für viele zum Alltag. "Ich verstehe ja, dass die Menschen die Kriminalität sehen, mich macht das auch wütend und ich schäme mich für vieles. Doch die Gesellschaft kann sich nicht vorstellen, was jeden Tag passiert und verschließt bei uns die Augen."

Besonders am Wochenende machen sich beispielsweise junge alkoholisierte Menschen häufig einen Spaß daraus, Obdachlose zu quälen, das Ganze mit dem Handy aufzunehmen und auf Tiktok zu verbreiten. Dies führt teilweise bis zu lebensbedrohlichen Situationen, wie zuletzt in Hamburg, als ein Obdachloser in seinem Schlafsack angezündet wurde. Mehr Annäherung, aber auch Präventionsarbeit zum Thema Drogen soll durch die Touren entstehen.

"Perspektivwechsel-Tour" als Sprachrohr einer Szene

Ein Mann mit einer roten Weste und dem Aufdruck "Perspektivwechsel" spricht über ein Mikrofon zu einer kleinen Gruppe.
Nach der Tour bleiben viele erschüttert zurück. Bild: Radio Bremen | Laura Lippert

Als Daniel Bekannten aus der Szene von der Tour erzählte, seien viele erstmal misstrauisch gewesen. "Die haben aber schnell verstanden, dass wir eigentlich ein wichtiges Sprachrohr sind und sie nicht bloßstellen wollen, wir sind quasi die einzige Lobby für sie", so der 42-Jährige. Mit Erfolg: Sogar Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) und der CDU-Fraktionsvorsitzende Frank Imhoff hätten die Tour bereits besucht. Die Toilettensituation am Hauptbahnhof wurde dann auch politisch in Angriff genommen.

Tour bewegt die Teilnehmer

Für die Zukunft plant das Team der Zeitschrift der Straße auch eine zweite Tour aus Sicht obdachloser Frauen – ebenfalls mit Frauen "aus der Szene". Denn diese würden noch viel verdeckter leben und seien ganz anderen Gefahren und Problemen ausgesetzt, so Spöring.

Etwas mehr als zwei Stunden dauert die Tour. Sie endet bei dem Büro der Zeitschrift der Straße – nur einen Katzensprung von Bremens Diskomeile entfernt. Zurück bleiben bewegte Menschen "Ich laufe hier jeden Tag lang, aber das ist wie ein neuer Blick", so einer der Teilnehmer verblüfft. Eine andere Frau kramt erschüttert ein bisschen Trinkgeld aus ihrer Tasche. Peu à peu lichten sich die Reihen und zurück bleiben die Tourguides – mit ihrem Alltag, der für viele Menschen eine kaum vorstellbare Perspektive bedeutet.

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Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 13. Juni 2024, 8:20 Uhr