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Bremerin mit türkischem Pass: "Möchte meine Meinung vertreten können"
Viele Menschen im Land Bremen dürfen hier nicht wählen, obwohl sie seit längerer Zeit in Bremen leben. Einige sind sogar hier geboren. Das sagen sie dazu.
Was bedeutet es, keine politische Stimme in dem Land zu haben, wo man geboren wurde? Für die Bürgerschaftswahl 2023 sind im Land Bremen etwa 462.000 Wähler und Wählerinnen im Wahlregister eingetragen. Nach den jüngsten Einwohnerzahlen entspricht das fast 80 Prozent der Einwohner ab 16 Jahren. Von den restlichen 20 Prozent dürften sich einige seit längerer Zeit in Deutschland aufhalten oder gar hier geboren sein. Ohne einen deutschen Pass dürfen sie allerdings nicht bei der Wahl für den Landtag abstimmen.
"Ich sehe mich als Deutsche, war aber schon immer Türkin"
Emmel Tekin kam vor 27 Jahren in Bremen auf die Welt, ihre Eltern stammen jedoch aus Iskenderun, einer Stadt in der Südtürkei unweit der syrischen Grenze. Tekin ist von Geburt an türkische Staatsbürgerin und darf in der Türkei wählen, obwohl sie in dem Land nie gelebt hat.
In Deutschland, ihrer Heimat, darf sie es jedoch nicht. "Mir steht die deutsche Staatsbürgerschaft zu, rein rechtlich gesehen auch", sagt sie in makellosem Deutsch, "aber ich bin noch am Überlegen". Denn für sie kommt eine Aufgabe der türkischen Staatsbürgerschaft noch nicht infrage.
Die meisten verzichten auf die alte Staatsbürgerschaft
Die 27-Jährige mit langen, braunen Haaren und dunklen Augen schaut nachdenklich auf ihre Tasse Kaffeecreme. Sechs Geschwister habe sie, die Älteren hätten alle die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen und auf die türkische verzichtet. Sie fühle sich aber noch nicht bereit. "Es ist eher ein Vertrauensbruch der Türkei gegenüber, wenn ich mich dagegen stelle und die deutsche Staatsangehörigkeit annehme. Obwohl ich eigentlich besser Deutsch als Türkisch spreche", sagt sie.
Türkische Bürger, die in Deutschland geboren sind, dürfen auch später die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, wie das Bundesinnenministerium bestätigt. In der Regel müssen sie jedoch die türkische aufgeben.
In Deutschland geborene Kinder türkischer Eltern haben entweder mit der Geburt neben der türkischen Staatsangehörigkeit auch die deutsche Staatsangehörigkeit erworben oder können zu einem späteren Zeitpunkt eingebürgert werden. Im Falle der Einbürgerung müssen sie nach geltendem Recht grundsätzlich die türkische Staatsangehörigkeit aufgeben.
Mehmet Ata, Sprecher des Bundesinnenministeriums
Es gibt zwar Fälle, in denen sie beide behalten dürfen, beispielsweise, wenn ihnen sonst erhebliche Nachteile drohen, allerdings ist dies selten der Fall. Laut Innenministerium haben etwa 91 Prozent der 2021 eingebürgerten Türken ihre alte Staatsbürgerschaft aufgegeben, 2020 waren es 90 Prozent.
Tekin möchte sich am politischen Leben beteiligen
Dadurch, dass ihre Geschwister keine türkischen Staatsbürger mehr sind, geht Tekin davon aus, dass sie sie ebenfalls bei einer Einbürgerung aufgeben müsste. Der einzige Vorteil dabei wäre, dass sie in Deutschland wählen dürfte. Die Nachteile sind eher mit ihrer Identität und Loyalität verbunden. "Ich sehe mich als Deutsche, aber ich war schon immer türkische Staatsbürgerin", sagt sie.
Dabei möchte sich die junge Frau gern am politischen Leben beteiligen. Mitbestimmen, wenn auch nur über die Stimmabgabe. "Ich bedauere es, auf Entscheidungen anderer zu leben und würde es schön finden, wenn ich meine Meinung vertreten dürfte." Als Jugendliche habe sie weniger darüber nachgedacht, jetzt mit eigenen Kindern schon eher – über Politik, Entscheidungen, Zukunft. "Diese Situation belastet einen, auch im Kopf. Man macht sich Gedanken", sagt Tekin.
Mehrere Tausend Menschen davon betroffen
Tekins Geschichte könnte die Geschichte vieler Deutschtürken und -türkinnen sein. Oder von Menschen anderer Nationalitäten. Mehr als 102.000 nicht-wahlberechtigte Ausländer gibt es in der Stadt Bremen. Etwa 5.000 davon sind in der Hansestadt geboren.
Wahlberechtigte zur Bürgerschaftswahl 2023
Insgesamt sind etwa 20 Prozent aller Einwohner ab 16 Jahren in Bremen nicht wahlberechtigt. Vor allem in sozial benachteiligten Gebieten ist ihr Anteil jedoch größer. In Bremen-Gröpelingen, seit Jahren ebenfalls der Stadtteil mit der niedrigsten Wahlbeteiligung, sind es fast 40 Prozent.
Ein Teil von ihnen könnte nur vorläufig in Deutschland leben. Oder gerade erst angekommen sein. Für die anderen bedeutet jedoch das fehlende Wahlrecht, dass sie keinen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können, obwohl sie davon betroffen sind.
Politikforscher: Wahlrecht nicht mehr zeitgemäß
Das trage dazu bei, dass das Interesse für die hiesige Politik abnehme, findet der Bremer Politikwissenschaftler Andreas Klee. Sichtbar wird es in Stadtteilen und an Orten, wo viele Einwohner nicht wahlberechtigt sind. Teilweise würden Wahlen in anderen Ländern mit größerem Interesse verfolgt als die deutschen.
In den beiden Städten leben viele Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, in der Bürgerschaft sind sie aber nicht repräsentiert. Das ist ein großes Problem.
Andreas Klee, Politikwissenschaftler
Für den Bremer Forscher liegt das Problem beim Wahlrecht. Es sei "völliger Quatsch", dass jemand seit Jahrzehnten seinen Lebensmittelpunkt irgendwo habe und dort die politischen Entwicklungen nicht mitbestimmen könne.
Eine Lösung könnte dann sein, das Wahlrecht an den langfristigen Wohnort zu binden. "Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Art Residenz-Modell gibt: Sobald man über einen gewissen Zeitraum an einem Ort lebt, man dort seinen Lebensmittelpunkt hat, dass man die Möglichkeit hat, politisch mitzugestalten", sagt Klee.
Debatte oft mit Angst behaftet
Über die Lage Nicht-Wahlberechtigter wird schon seit längerer Zeit diskutiert. Die Debatte geht oft jedoch mit der Angst einher, dass Menschen aus anderen Ländern andere Werte vertreten könnten – auch politisch. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion über das Wahlverhalten von Deutschtürken, die 2018 mehrheitlich für den autoritären Präsidenten Recep Erdogan stimmten. "Die Angst immer da", gibt Klee zu, aber das müsse man politisch angehen.
Das ist die Herausforderung der Demokratie, wenn man möglichst viele Menschen beteiligen will: Dass dabei Meinungen sind, die uns nicht gefallen. Solange sie nicht außerhalb des rechtlichen Rahmens sind, müssen wir das aushalten.
Andreas Klee, Politikwissenschaftler
Wer darf die Bremer Bürgerschaft nicht wählen?
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 11. Mai 2023, 19:30 Uhr