Kommentar
Mal eben innehalten, Ihr Demokraten!
Die Migrations-Debatte im Bundestag hinterlässt einen politischen Trümmerhaufen. Dabei sollten gerade jetzt die Demokraten zusammenhalten – und ihren Job machen, findet Jochen Grabler.
Kennen Sie die Redewendung "Stop and think"? Übersetzt heißt das "mal eben innehalten", und dieser Rat ist immer gut. Wie oft passiert es im Leben, dass man einer ersten Erregung folgt und irgendwas sagt oder tut, das so gar nicht weiterhilft.
Man hat zwar Dampf ab- und die Sau rausgelassen, aber jetzt ist der Streit erst richtig eskaliert, die Lage ist komplizierter als zuvor. Und am Ende gibt es nur noch Verlierer. Mit anderen Worten: "Mal eben innehalten" ist immer eine gute Idee. Darum: Mal eben innehalten, Ihr Demokraten! Ihr habt jetzt in der Migrationsdebatte Dampf ab- und reichlich Säue rausgelassen, aber hey, was hat das gebracht?
Wenn Ihr mich fragt: In der Sache nichts. Gar nichts. Für die Zukunft aber ernsthafte Gefahr. Ist das klug? Nein. Wollt Ihr das? Na, hoffentlich nicht! Mir wird himmelangst. Wir sehen doch gerade, wie ihr kaum noch überbrückbare Gräben zwischen Euch aufreißt.
Ja, die Migrationsdebatte löst Emotionen aus, aber müsst Ihr Euch denen so gedankenlos hingeben? Ja, es gehört zum politischen Ritual, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Schuld haben immer "die da". Aber wenn die Demokratie wackelt, haltet Ihr dieses eingeübte Spielchen wirklich für schlau? Mit diesem Ergebnis?
Wahlkampf als Brandbeschleuniger
Wir erleben eine Debatte, die eine stabile Demokratie verkraften würde. Sind wir aber nicht mehr. Ihr spielt Bonn mit Internetanschluss, wir aber sind längst in Weimar. Der Wahlkampf kommt ja als Brandbeschleuniger noch dazu. Irgendwann brennt der Reichstag. Und keiner will's gewesen sein.
Ich meine das bitter ernst. Ihr macht es ja gerade vor. Im Wahlkampf schwappt die Welle der Gefühle noch höher. Die Vorwürfe werden noch schärfer. Noch verletzender. Und sorgen für noch schärfere Gegenvorwürfe. Und für noch mehr Verletzungen.
Wenn Ihr mal für ne Sekunde nachdenkt: Kann das gut sein? Wohl kaum! Wie wollt Ihr eigentlich morgen oder übermorgen zusammenarbeiten, wenn Ihr Euch heute derart an die Gurgel geht? Kleine Erinnerung: Die erste demokratische Republik in Deutschland ist auch deshalb vor die Hunde gegangen, weil die Parteien des demokratischen Spektrums über Jahre nicht mehr in der Lage waren, Mehrheiten zusammenzubringen.
Die Stärke der braunen Mörderbande entstand vor allem aus der Schwäche der Demokraten. Das kann nicht Euer Ziel sein. Ist es ja auch nicht, davon bin ich überzeugt. Aber das eine ist, was man will und in Gedenkstunden vor sich herträgt, das andere ist, was man tut.
Katastrophe muss abgewendet werden
Kürzlich las ich einen Satz von Igor Levit. Ein Weltklassepianist und obendrein ein kluger Mann: "Der Tag beginnt im Bundestag damit, dass man der Shoah gedenkt und er endet damit, dass Nazis jubeln." Der Auschwitz-Überlebende Albrecht Weinberg hat sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben. Aus tiefer Enttäuschung über die Abstimmung im Bundestag. Ich möchte das nicht.
Umso dringender ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, innezuhalten, nachzudenken, die eigene Rolle in diesem politischen Desaster zu erkennen und mit kühlem Kopf der Frage nachzugehen, wie man Gräben zuschüttet und die ansonsten erwartbare Katastrophe abwendet. Dafür seid Ihr nämlich gewählt. Vielleicht erkennt Ihr dann, dass Ihr selbst diesen Trümmerhaufen zu verantworten habt.
Alle Demokraten? Ja, Alle. Keiner von Euch, keiner, hat es in den vergangenen Jahrzehnten hinbekommen, was doch so wichtig gewesen wäre. Nämlich: ein modernes Einwanderungsgesetz vorzulegen. Modern – und zwar nach allen Seiten. Weil es doch zwei Wahrheiten gibt.
- Erstens: Die Integration von Zugewanderten ist längst an viel zu vielen Stellen an Grenzen gestoßen und hat für heillose Überforderung gesorgt. Stichwort: Schulen. .
- Zweitens: Deutschland braucht dringend Zuwanderung von Fachkräften. .
Überraschenderweise haben aber viel zu wenig Fachkräfte aus dem Ausland Lust, in ein Land zu ziehen, in dem ganze Zuwanderergruppen unter Generalverdacht gestellt werden. Bei Anwerbungen ist Rassismus nicht sonderlich förderlich. Die politische Kunst besteht nun darin, diese beiden Wahrheiten in eine Balance zu bringen.
Demokraten sollten die Aufgabe annehmen
Sehr simpel formuliert: Es braucht einen klugen Mittelweg zwischen Grenzen dicht und Grenzen offen. Man kann sich nun im Brustton der moralischen Überlegenheit auf eine Seite stellen und mit dem Finger auf die anderen zeigen. Bringt aber nichts. Außer politischen Gräben und Jubelselfies bei den Feinden der Demokratie, denen man bei Trost nicht mal die Kaffeekasse anvertrauen würde.
Es wäre also überfällig, dass Ihr Demokraten im Land diese politische Aufgabe erkennt und den Mut aufbringt, sie anzunehmen. Sonst seid Ihr nämlich alle Verlierer. Und mit Euch das ganze Land. Haltet inne, beendet Eure Beschimpfungsrituale, denkt nach – und macht verdammt nochmal Euren Job!
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 29. Januar 2025, 19:30 Uhr