Infografik
Diese Politiker sind auf Parteilisten hinten – bei Wählern weit vorn
Diese Bürgerschaftskandidaten überraschten: Sie wurden von Tausenden Bremern persönlich gewählt. Sie haben buten un binnen erzählt, wie sie das geschafft haben und was sie planen.
Die Bürgerschaftswahl ist vorbei, die Ergebnisse verkündet, Gewinner und Verlierer benannt, Koalitionsgespräche im Gange. Und doch ist die Bremen-Wahl für manche Kandidatinnen und Kandidaten alles andere als abgehakt. Dies liegt zum Beispiel daran, dass sie weit besser abgeschnitten haben, als es ihr Listenplatz hätte erwarten lassen – mit allen Konsequenzen, die sich daraus für sie persönlich, ihre Partei und ihre Wählerinnen und Wähler ergeben. Fünf von ihnen haben buten un binnen erzählt, worauf sie hoffen, was sie frustriert und wie sie jetzt planen.
1 Tim Sültenfuß (Linke): Werder-Fan, Durchstarter, Nachrücker?
Bei kaum einem Kandidaten wird die Bedeutung der Personenstimmen, die Bremerinnen und Bremer den Kandidaten direkt geben konnten, so deutlich wie bei Tim Sültenfuß. Der 29-Jährige ist bei diesen Bürgerschaftswahlen erstmals angetreten – und hat auf Anhieb die sechstmeisten Personenstimmen in seiner Partei, Die Linke, erhalten. Die Folge: Sollte die Koalition aus SPD, Grünen und Linken wie geplant fortgesetzt werden, winkt nun ein Abgeordnetenmandat. "Wenn das so kommen würde und die Koalitionsverhandlungen gut laufen und zum Beispiel Kristina Vogt Senatorin bleibt, wäre ich wohl der erste Nachrücker für ihr freiwerdendes Mandat", sagt Sültenfuß.
Dass der junge Politiker so viele Stimmen auf sich vereint hat, begründet er auch mit mehreren Wählergruppen, die ihm besonders nahestehen.
Ich bin in der Werder-Fan-Szene relativ bekannt, habe seit 15 Jahren eine Dauerkarte.
Tim Sültenfuß, bei Wählerinnen und Wählern beliebter Bürgerschaftskandidat der Linken
Außerdem engagiere er sich als Rollstuhlfahrer, der selbst auf eine Assistenz angewiesen sei, ehrenamtlich in der Assistenzgenossenschaft. "Auch da werden mich einige Leute, die mich kennen, gewählt haben", sagt er.
Sollte es tatsächlich mit dem Mandat klappen, würde sich Sültenfuß zuvorderst für einen ticketlosen ÖPNV in Bremen einsetzen, sagt er. Darüber hinaus könne er sich als Jurist vorstellen, eine entsprechende Sprecherfunktion in seiner Partei zu übernehmen.
Listenplatz: 22 von 24
Personenstimmen: 1.793 (Platz 6 in der Partei Die Linke)
2 Tobias Huch (FDP): Spätstarter und Flüchtlingshelfer
Nach der Bürgerschaftswahl lag der FDP-Politiker Tobias Huch erst einmal krank im Bett. "Der Wahlkampf hat mir alles abverlangt", sagt der Überraschungskandidat der FDP, der in seiner Partei die meisten Personenstimmen nach Spitzenkandidat Thore Schäck auf sich vereint hat – und das mit Listenplatz 16. Zufrieden ist der erst seit drei Jahren in Bremen lebende Huch dennoch nicht.
Ich hatte die Hoffnung, dass die FDP ein Ergebnis über 6 Prozent bekommt und ich so über Personenstimmen in die Bürgerschaft einziehen kann.
Tobias Huch, bei Wählerinnen und Wählern beliebter Bürgerschaftskandidat der FDP
Im Wahlkampf hat er vor allem auf das Vertrauen von Wählerinnen und Wähler gesetzt hat, die nicht unbedingt zur klassischen FDP-Klientel zählen – und zwar auf Menschen mit Migrationshintergrund. "Man muss die Menschen auch abholen und einladen", sagt Huch, der seit neun Jahren im Verein "Liberale Flüchtlingshilfe" aktiv ist. "Meinen Wahlkampf konnte ich leider erst drei Wochen später als geplant starten, da ich mich um die Erdbebenhilfe in der Türkei und Syrien kümmern musste. Das hatte Priorität", sagt er.
Auch wenn es bei dieser Wahl nicht für ein Mandat gereicht habe, sei er stolz darauf, dass es die Liberalen mit seinen Stimmen wieder in Fraktionsstärke in die Bürgerschaft geschafft hätten, sagt Huch. "Ich glaube, dass ich meine Expertise in den Bereichen Integration, Soziales und internationale Zusammenarbeit auch ohne Bürgerschaftsmandat in der FDP-Fraktion einbringen kann."
Listenplatz: 16 von 20
Personenstimmen: 2.080 (Platz 2 in der FDP)
3 Oguzhan Yazici (CDU): Verlässlicher Community-Vertreter
Oguzhan Yazici zählt bei der zweiten Bürgerschaftswahl in Folge zu den Highflyern in der CDU. 2019 vereinte er die fünftmeisten Personenstimmen auf sich, diesmal waren es sogar die drittmeisten. "Mit einer beinahe Verdoppelung meiner Stimmen habe ich allerdings nicht gerechnet", sagt der Jurist, der seit 2015 im Landesvorstand der CDU ist.
Der Listenplatz sei zwar wichtig, es seien aber Persönlichkeitsmerkmale wie Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit entscheidend, um bei Wählern zu punkten, sagt Yazici. Vor allem bei einer Gruppe ist er anscheinend dabei besonders gut angekommen: "Ich habe in der türkisch-muslimischen Commuity gezielt für mich geworben", sagt er. Damit schaffte er es sogar unter die meistgewählten Politiker über alle Parteien hinweg.
Seine wichtigste politische Aufgabe sieht er in der Bildungspolitik. "Wir haben in dieser Stadt ein Gerechtigkeitsproblem", sagt Yazici. Das zeige sich ganz massiv in der Schule. Nirgends sei der Bildungserfolg von Kindern stärker vom Bildungsstand und vom Geldbeutel der Eltern abhängig als in Bremen. "Dagegen nachhaltig etwas zu tun, ist eins meiner wichtigsten politischen Ziele für die kommende Legislaturperiode."
Listenplatz: 25 von 53
Personenstimmen: 5.838 (Platz 3 in der CDU)
Diese Personen erhielten bei der Bremen-Wahl die meisten Stimmen
4 Kai Wargalla (Grüne): Für Queer, Kultur und gegen Rechts
"Ich finde das immer noch ein bisschen unglaublich", sagt die Grünen-Politikerin Kai Wargalla, wenn sie sich rückblickend ihr Wahlergebnis anschaut. Schon bei der vergangenen Wahl hatte es für sie zwar über die Personenstimmen gereicht. "Diesmal war die Aufgabe aber ja noch schwieriger", sagt sie, angesichts der deutlichen Stimmenverluste ihrer Partei. Das Bemerkenswerte: Wargalla gewann im Vergleich zu 2019 bei dieser Wahl sogar Personenstimmen hinzu – und ließ dabei Grünen-Senatorin Anja Stahmann in der Wählergunst hinter sich.
Um eine bestimmte Gruppe von Wählerinnen und Wählern habe sie "nicht wirklich" geworben. Allerdings habe sie sich in ihren Politikbereichen – Kultur, Queer und Strategien gegen Rechts – vier Jahre lang voll reingehängt, viel erreicht und hoffentlich damit überzeugen können, sagt sie. Dass sie über Listenplatz 14 nicht glücklich war, daraus macht sie keinen Hehl. Zumal sie so nur mit sehr vielen Personenstimmen erneut ins Parlament einziehen konnte.
Am meisten berührt hat mich, dass viele Wähler*innen selbst aktiv geworden sind und in sozialen Netzwerken, in ihren Familien und Freundeskreisen geworben haben.
Kai Wargalla, bei Wählerinnen und Wählern beliebter Bürgerschaftskandidatin der Grünen
Die Liste ihrer politischen Ziele für die kommende Legislaturperiode ist lang. Sie reicht von den Herausforderungen für Kunst und Kultur, die Pandemie-Folgen zu bewältigen, über die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen bis hin zu einer Neuauflage des Landesaktionsplans gegen Queerfeindlichkeit. "Mit den BiW wird außerdem erstmals eine rechte Partei, mit nachgewiesenen Verbindungen ins rechtsextreme und neonazistische Milieu, in Fraktionsstärke in der Bremischen Bürgerschaft sitzen", sagt Wargalla. "Wir dürfen das nicht verharmlosen oder unterschätzen."
Listenplatz: 14 von 32
Personenstimmen: 4.953 (Platz 2 bei den Grünen)
5 Elombo Bolayela (SPD): Entschiedener Fürsprecher der Gleichberechtigung
Elombo Bolayela weist unter den Bremer Politikern die größte Diskrepanz zwischen Listenplatz und Personenstimmen auf. Für die SPD sammelten nur Innensenator Ulrich Mäurer und Bürgermeister Andreas Bovenschulte mehr Stimmen ein als er. Neu ist die Situation, auf einem niedrigen Listenplatz zu stehen, für ihn allerdings nicht. Dieses Jahr war es Platz 35, bei den Wahlen vor vier Jahren Platz 41. Gewählt haben die Menschen Bolayela, der als 20-Jähriger aus dem Kongo nach Deutschland floh, trotzdem.
Die niedrige Listenplatzierung stört den 57-Jährigen auch nicht. Im Gegenteil: "Gerade in der SPD wurden Frauen und Männer paritätisch und nach Alter auf die Liste gesetzt und das war gut so", sagt er. Was auch verdeutlicht, was ihm politisch besonders wichtig ist. "Da ich seit vielen Jahren als einziger Mann im Ausschuss für die Gleichstellung der Frauen tätig bin, ist das natürlich auch eine besondere Zielgruppe", sagt er.
Ich werde mich auch weiterhin für die Gleichberechtigung der Frau stark machen.
Elombo Bolayela, bei Wählerinnen und Wählern beliebter Bürgerschaftskandidat der SPD
Darüber hinaus engagiert sich Bolayela, der seit 2011 in der Bremischen Bürgerschaft sitzt, als Sprecher für Kultur der SPD-Fraktion und setzt sich besonders für Bremen-Nord ein. "Ich bin überzeugt, dass Bremen-Nord die Solidarität der gesamten Stadt braucht."
Listenplatz: 35 von 59
Personenstimmen: 3.107 (Platz 3 in der SPD)
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Die Rundschau, 19. Mai 2022, 12 Uhr