Kommentar

Ermittlungsfehler im Fall Marco W: Es wird Zeit für Selbstkritik!

Bild zeigt die Anklagebank im Landgericht Bremen mit den 3 Angeklagten (Gesichter unkenntlich). Dahinter die Verteidigung
Auf der Anklagebank sitzen die drei Angeklagten, ihre Gesichter sind unkenntlich gemacht. Bild: Radio Bremen | Till Kohlwes

Die Richter haben geurteilt: Zwei Angeklagte tragen Schuld am Tod des Bremers. Der buten-un-binnen-Gerichtsreporter Steffen Hudemann meint: Es bleibt ein bitterer Beigeschmack.

Immerhin um einen Freispruch für alle drei Angeklagten sind Polizei und Staatsanwaltschaft herumgekommen. Ein Angeklagter ist wegen Totschlags verurteilt worden, einer wegen Beihilfe dazu, nur einen hat das Gericht am Ende freigesprochen. Ob das Urteil Bestand hat, muss nun der Bundesgerichtshof entscheiden.

Dennoch gibt dieses Urteil keinen Anlass für Polizei und Staatsanwaltschaft, zur Tagesordnung überzugehen. Denn den zentralen Baustein der Mord-Anklage – das Geständnis eines Angeklagten – durfte das Gericht nicht verwerten, weil die Ermittlungsbehörden schlecht gearbeitet haben, weil sie sich um Gesetze nicht geschert haben.

Viele kritische Fragen an Ermittler

Die Polizeibeamten und die ermittelnde Staatsanwältin mussten sich im Prozess viele kritische Fragen gefallen lassen. Diese Fragen dominierten die Hauptverhandlung so sehr, dass die Vertreterin der Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer daran erinnerte, worum es in dem Verfahren eigentlich ging: den Vorwurf des Mordes nämlich.

Das ist richtig – und trotzdem ist es notwendig, dass diese Fragen gestellt wurden. Nur so konnte die Öffentlichkeit erfahren, wie diese Ermittlung geführt wurde – "würdelos", "beschämend" und "bestürzend", wie einer der Verteidiger es formulierte.

Da läuft während einer zentralen Vernehmung für rund drei Stunden das Aufnahmegerät nicht mit – ein Versehen, wie der Kripo-Beamte beteuert. Da kann ein Kommissar nicht erklären, welchen Teil seiner Mailkorrespondenz mit der Staatsanwaltschaft er zu den Akten gegeben und welche er schon gelöscht hat, "weil das Postfach voll war". Da werden die drei Verdächtigen über Monate nicht als Beschuldigte, sondern als Zeugen geführt, sogar noch als die Polizei mit dem SEK die Wohnungen durchsucht und die drei mit aufs Revier nimmt.

Knackpunkt war Vernehmung ohne Anwalt

Und das sind nur die vergleichsweise nebensächlichen Merkwürdigkeiten. Im Mittelpunkt steht eine Vernehmung, in der die Polizei so dreist vorgegangen ist, dass man es kaum glauben kann – in Anwesenheit der ermittelnden Staatsanwältin.

Da sagt der Anwalt des Beschuldigten am auf laut gestellten Telefon, sein Mandant werde nichts sagen. Kaum hat der Verteidiger aufgelegt, geht das Verhör des wegen Mordes Beschuldigten – getarnt als Zeugenvernehmung – weiter. Über Stunden bittet der Verdächtige immer wieder um einen Anwalt: Er werde aussagen, aber er möchte sich vorher mit seinem Verteidiger beraten. Die Vernehmungsbeamtin wischt das mit den Worten beiseite: "Was glauben Sie, was Ihr Anwalt daraus macht?".
Das Geständnis, das dann folgt – ohne den Anwalt – verstaubt nun ungenutzt in den Akten. Das Gericht durfte es wegen dieses eklatanten Fehlers – wegen eines vorsätzlichen Rechtsbruchs durch die Polizei – nicht nutzen. Was wirklich im April 2020 in der Rheinstraße passierte, wie und durch wen Marco W. zu Tode kam – das wird wohl nie ganz aufgeklärt werden.

Warum hielt sich die Polizei nicht an Gesetze?

Polizistinnen und Polizisten haben einen schweren Beruf. Was sie täglich sehen, ist belastend, kann frustrierend sein. Die Gesellschaft verlangt viel von der Polizei. Sie soll Verbrechen aufklären oder verhindern, rund um die Uhr, nachts und am Wochenende. Dafür darf die Polizei Dinge, die sonst eigentlich niemand darf: Gewalt anwenden, Telefone abhören, Verdächtige festnehmen und verhören. Im Gegenzug müssen sich die Beamtinnen und Beamten dabei an strenge Regeln halten. Das ist der Deal. Er nennt sich Rechtsstaat.

Angehende Polizistinnen und Polizisten lernen das in ihrer Ausbildung, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte erst Recht. Wie aber kann es sein, dass in diesem Fall, als es drauf ankam, niemand nach diesen Gesetzen handelte? Lag es an der Überarbeitung, von der im Prozess immer wieder die Rede war? An Übermotivation? An fehlender Erfahrung?

Oder hat sich im zuständigen Kommissariat ein ungesunder Korpsgeist breitgemacht, eine "Cop Culture", in der Beschuldigtenrechte und Verteidigung als lästig angesehen werden? Wenn man die Beamtinnen und Beamten in diesem Verfahren gehört hat, wenn man von Verteidigern hört, was diese aus anderen Fällen berichten, dann spricht manches für diese These.

Selbstkritik? Fehlanzeige!

Und wie steht es um die Fehlerkultur? Vor Gericht war in diese Richtung von den als Zeugen auftretenden Beamtinnen und Beamten nicht viel zu hören – von Problembewusstsein und Selbstkritik keine Spur, stattdessen hatten sie auffällig viele Erinnerungslücken.

Immerhin hat der Leiter der Staatsanwaltschaft im buten-un-binnen-Studio nun eine kritische Aufarbeitung der Vorfälle angekündigt. Die Ermittlungsbehörden dürfen sich dabei nicht schonen. Denn Polizei und Staatsanwaltschaft müssen ihre Grenzen kennen – und auch danach handeln. Denn wenn sie sich nicht an Gesetze halten, wie sollen sie das dann von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen.

Fall "Marco W." Bremer Oberstaatsanwalt kündigt Untersuchung an

Bild: Radio Bremen

Autor

  • Steffen Hudemann
    Steffen Hudemann Autor

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 24. Juni 2024, 19:30 Uhr