Interview

Rechte von Beschuldigten: "In der Polizei mitunter nicht gern gesehen"

Kriminologie-Professor Tobias Singelnstein forscht seit Jahren zu Missständen bei der Polizei. Die Fehler bei den Ermittlungen zum Tod des Bremers Marco W. seien kein Einzelfall.

Bild: dpa | Katja Marquard

Welchen Stellenwert haben Rechte von Beschuldigten grundsätzlich in der Polizeiarbeit?

Wir haben ein sehr rechtsstaatlich ausgestaltetes Strafverfahren und somit relativ starke Beschuldigtenrechte. Denn der Staat erlaubt sich durch Ermittlungen einen Zugriff auf die Bürger- und Menschenrechte der Beschuldigten. Eben deshalb hat die Strafprozessordnung die Funktion, die Beschuldigtenrechte zu schützen.

Soweit die Theorie: Wird das in der Praxis auch so von der Polizei ausgeübt?

Für die Polizei sind die starken Beschuldigtenrechte in der Strafprozessordnung oft eher ein Hindernis. Sie schränken die Möglichkeiten der polizeilichen Arbeit ein. Und deshalb sind es rechtliche Regelungen, die in der Polizei mitunter nicht gern gesehen sind. Sie werden natürlich akzeptiert, weil es die rechtlichen Grundlagen ihrer Arbeit sind, aber ob sie in der Praxis immer so beachtet werden, wie sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat, ist fraglich.

Woran könnte es liegen, dass die Polizei sich nicht immer an diese Regeln hält?

Gerade bei Kapitaldelikten ist es für die Polizei besonders wichtig und ein Erfolg, wenn sie ein Geständnis erreichen kann. Und so ein Geständnis erreicht man in der Praxis am ehesten in ersten Vernehmungen. Deshalb sind diese ersten Vernehmungssituationen für die Polizei besonders wichtig. Da werden die Grenzen des Erlaubten dann ausgenutzt, manchmal auch über die Grenzen des Zulässigen hinaus.

Welches Bild hat die Polizei denn in diesem Zusammenhang von Verteidigern?

Verteidigung ist in solchen Situationen immer ein Dorn im Auge. Die Verteidigung wird im Zweifel sagen: Wir machen von unserem Schweigerecht Gebrauch und sagen hier erst einmal gar nichts, sondern warten ab, wie sich die Situation entwickelt. Und das ist genau das Gegenteil dessen, was die Polizei eigentlich möchte. Und deshalb ist es in der Praxis so, dass die Polizei häufig versucht, die Beteiligung der Verteidigung hinauszuzögern.

Werden denn Beschuldigtenrechte ausreichend in der Ausbildung gelehrt?

Es ist natürlich ein essenzieller Bestandteil der Ausbildung, gerade auch für die Kriminalpolizei, dass es diese starken Beschuldigtenrechte im Strafverfahren gibt und dass sie zu beachten sind. Wir können davon ausgehen, dass alle Beamtinnen und Beamten, die in der Kriminalpolizei tätig sind, diese Beschuldigtenrechte gut kennen.

Wie verhält es sich denn mit diesem in der Ausbildung Gelehrten dann im polizeilichen Alltag?

In der Polizeiforschung sprechen wir vom sogenannten Praxisschock. Wenn man von der Ausbildung in die Praxis kommt, dann gelten eben die Regeln derer, die dort schon sind. Das überlagert dann unter Umständen das, was man in der Ausbildung gelernt hat. Die Kriminalpolizei arbeitet zudem in einer bestimmten Perspektive, die auch kulturell verankert ist.

Die haben von sich die Vorstellung, dass sie Menschen verfolgen, die schwere Straftaten begangen haben. Und sie haben natürlich ein erhebliches Interesse daran, die Leute, von denen sie annehmen, dass sie die Täter und Täterinnen sind, auch zu überführen. Dann nimmt man natürlich eine bestimmte Sichtweise auf die Ermittlungen ein und auf die Möglichkeiten, die man im Rahmen dieser Ermittlungen hat und versucht, die, soweit es eben geht auszureizen.

Von den Beamtinnen, die als Zeugen geladen waren, war auch immer wieder von Überlastung die Rede. Kann das auch eine Rolle spielen?

Es kann natürlich auch eine Rolle spielen. Die Polizeiarbeit ist ein anstrengender Beruf und in der Kriminalpolizei besteht eine besondere Belastung. Aber das darf nicht dazu führen, dass Regelungen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens ausgehebelt werden.

Wie ist es denn um die Fehlerkultur bei der Polizei aus ihrer Erfahrung bestellt? Werden Fehler ausreichend aufgearbeitet?

Ich glaube, man muss verschiedene Ebenen differenzieren. Intern wird in der Polizei schon relativ offen geredet und man ist sich auch relativ klar darüber, wenn Dinge schlecht gelaufen sind. Die andere Frage ist dann, ob das auch nach außen hin transparent geschieht, also ob das für die Gesellschaft sichtbar wird. Und da sehen wir in der Polizeiforschung, dass diese Form der Fehlerkultur nicht besonders ausgeprägt ist.

In diesem Fall war das Geständnis am Ende wertlos, weil es nicht verwertet werden durfte. Das ist, wenn man so will, das einschneidendste und das wirksamste Mittel, um die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln zu erzwingen. Weil natürlich auch die ermittelnden Polizeibeamten überhaupt kein Interesse daran haben, dass wegen Fehler der Polizei Tatverdächtige nicht verurteilt werden können. Dann hat das die stärkste Wirkung.

Autor

  • Steffen Hudemann
    Steffen Hudemann Autor

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 24. Juni 2023, 19:30 Uhr