60 Jahre Mauerbau: Wie ein Bremer seine Kindheit in der DDR erlebte
Er wuchs mit der Berliner Mauer auf – erst östlich, dann westlich davon. Hier erzählt Markus Pragal seine besondere Geschichte als Mensch zwischen zwei Welten.
Ich habe als Kind fünf Jahre in der DDR gelebt. Diese Erfahrung hat mein Leben natürlich ein stückweit geprägt. Denn kaum einer außer mir hat das so erlebt, als West-Deutscher in der DDR. Mein Vater war ab 1974 DDR-Korrespondent für die "Süddeutsche Zeitung". Wir waren die erste westdeutsche Korrespondentenfamilie, die sich in Ost-Berlin niedergelassen hat. Dass überhaupt Korrespondenten aus der Bundesrepublik in der DDR zugelassen wurden, war erst möglich geworden nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und der Errichtung von Ständigen Vertretungen.
Privilegiertes Leben in der Hochhaussiedlung
Wir haben in Lichtenberg gewohnt, das war eine Trabantensiedlung, wo es nur Hochhäuser gab. Ich bin später als Erwachsener noch ein- oder zweimal dagewesen, wenn ich in der Gegend etwas zu erledigen hatte. Jetzt könnte ich mir nur noch schwer vorstellen, dort zu wohnen. Für DDR-Bürger war das aber damals eine privilegierte Gegend. Viele haben ja noch mit Braunkohle geheizt. So hat es auch gerochen, und nach den Abgasen der Trabis. Wenn im Winter Schnee lag, war der ganz schnell braun und schwarz.
In unserer Wohnung an der Ho-Chi-Minh-Straße gab es dagegen eine Zentralheizung und fließendes Wasser, meine Schwester und ich hatten ein eigenes Zimmer, dazu noch Wohnzimmer und Schlafzimmer – das war für die DDR Luxus. Für mich war es normal, mit dem Fahrstuhl zu fahren, den Müll in den Müllschlucker zu werfen. Bei Lichtenberg denke ich an mein Zimmer, wie ich zur Schule gegangen bin, an Schulfreunde, Ausflüge, die wir gemacht haben, also eigentlich an ein ganz normales Familienleben. Ja, für mich war der Alltag in der DDR ganz normal, ich kannte es ja nicht anders. Denn meine ersten drei Lebensjahre in München – daran hatte ich keine Erinnerung. Es ist ja ohnehin immer die Frage bei Kindheitserinnerungen: Was ist noch das, woran man sich wirklich erinnert, und was nimmt man später in der Reflektion so wahr, weil bestimmte Geschichten schon so oft erzählt worden sind?
Ein Westdeutscher in einer DDR-Schule – das war Neuland
In Ost-Berlin war ich zuerst in einem evangelischen Kindergarten. Dann haben meine Eltern überlegt, ob sie mich nach West-Berlin auf die Schule schicken, wie fast alle anderen Journalisten- und Diplomatenkinder. Meine Eltern haben damals ganz praktisch gedacht: Wäre ich jeden Morgen erst mit dem Auto zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße gebracht worden, um dann mit dem Schulbus irgendwo nach West-Berlin zu fahren, dann wären meine Freunde ewig weit weg gewesen – und sogar noch auf der anderen Seite der Mauer. Meine Eltern wollten mich lieber in die Schule um die Ecke schicken.
Die DDR hatte allerdings große Probleme mit der Entscheidung meiner Eltern, mich dort einzuschulen. DDR-Funktionäre haben – glaube ich – lange überlegt: Warum macht Herr Pragal das? Will er unser Bildungssystem ausspähen? Schließlich wurde ich zugelassen, auch mit der Begründung, vielleicht erkennt der Vater ja die Errungenschaften des Sozialismus an. Auf jeden Fall war das für alle Beteiligten Neuland. Für mich aber war es eine tolle Zeit. Das lag auch an meiner Klassenlehrerin. In der DDR war es üblich, dass die Klassenlehrerinnen und -lehrer die Familie zu Hause besuchten, bevor ein Kind eingeschult wurde. Meine Eltern haben sich gleich sehr gut mit ihr verstanden und gemerkt, dass sie nicht auf Parteilinie war, sondern ein sehr kritischer, freier Geist. Sie haben sich gut unterhalten und so ist eine Vertrauensbasis entstanden. Sie hat mich sehr gut begleitet, auch in Situationen, wo es schwierig wurde, zum Beispiel mit politischen Themen. Ich bin mir bewusst, dass ich sehr privilegiert war. Ich konnte als Westdeutscher immer ungestraft meine Meinung sagen.
Pionier durfte ich nicht werden – aber die US-Flagge malen

In der Schule hatten wir einmal die Aufgabe, einen russischen Kosmonauten zu malen, und ich habe stattdessen einen Astronauten mit US-Flagge auf dem Helm gemalt. Wenn das ein anderes Kind in meiner Klasse gemacht hätte, wäre das ein Problem geworden. Meine Klassenlehrerin wusste damit ohne viel Aufhebens umzugehen. Ich erinnere mich aber auch daran, wie ich am Montagmorgen zur Schule gekommen bin und es war Fahnenappell und alle standen da mit weißen Hemden und blauen Halstüchern und ich war traurig, dass ich mich nicht dazustellen durfte. Als Westdeutscher durfte ich kein Pionier werden. Meine Lehrerin hat aber dennoch dafür gesorgt, dass ich in der Klasse einen ganz normalen Umgang haben konnte, obwohl ich ein Exot war.
Wenn meine Mitschüler bei mir zu Besuch waren, waren sie oft erstaunt, weil meine Eltern eine sehr freie Erziehung praktiziert haben. Ich durfte in meinem Zimmer die Wände anmalen. Das sah also schon alles ein bisschen wild aus. Ich musste auch nicht ständig mein Zimmer aufräumen, so dass bei mir Berge von Spielsachen durcheinander lagen. Das waren viele so überhaupt nicht gewohnt und waren erstaunt, wie man in so einem Zimmer überhaupt spielen kann. Ein Thema bei den Kindern war auch das Westfernsehen. Es gab Mitschüler, deren Eltern bei der Stasi arbeiteten oder in der Partei waren, glaube ich. Deren Eltern haben immer gesagt: "Wir gucken kein Westfernsehen". Das haben wir dann bei uns aber schon manchmal gemacht. Und dann haben diese Kinder einfach gesagt: "Das ist gar kein Westfernsehen". So haben sie das Dilemma für sich gelöst.
Wie man Lesen gelernt hat, war sehr politisch
In der zweiten Klasse wurde es schon immer politischer. Da musste morgens der Klassensprecher die Nachrichtenlage zusammenfassen. Auch mein Lesebuch hatte interessante Geschichten. Wie man Lesen gelernt hat, war sehr politisch. Viele meiner Mitschüler waren schon in diesem Alter mit dem Bild des imperialistischen Klassenfeinds vertraut. Wenn ich dann erzählt habe, dass es den Stacheldraht nur auf der östlichen Mauerseite gibt, dass man aber auf der anderen Seite bis an die Mauer rangehen und sie anfassen kann, dann war das für meine Klassenkameraden schwer zu begreifen. Sie hatten sich das ganz anders vorgestellt, nämlich, dass an der Westseite schwer bewaffnete Soldaten gestanden hätten.
Die Entscheidung meines Vaters, in die DDR zu ziehen, kann ich heute gut verstehen. Denn es ist etwas ganz anderes, ob man den Alltag an einem Ort kennenlernt, dann hat man einen ganz anderen Zugang. So konnte mein Vater ganz anders über das Leben in der DDR schreiben. Wir hatten natürlich einen sehr privilegierten Status, konnten einfach über die Grenze fahren, hatten im Pass einen Stempel, "Bitte bevorzugt behandeln", was de facto bedeutete, dass man an der Grenze nicht richtig kontrolliert wurde.
Über die Grenze zum Klavierunterricht in einer anderen Welt
Als wir 1979 nach Bonn umgezogen sind, in ein großes Haus mit Garten, kam ich mir da ganz verloren vor. Als Kind fand ich es immer schade, umziehen zu müssen, weil ich dann aus allem rausgerissen wurde und meine Freunde nicht mehr sehen konnte. So wie meine beste Freundin in der Schule in Ost-Berlin, das war ein Mädchen aus Ghana, mit der ich am meisten gespielt habe. Ab 1984 haben wir wieder in Berlin gelebt, diesmal aber im Westen, in Charlottenburg. In dieser Zeit bin ich noch viel mehr als vorher ein Mensch zwischen zwei Welten gewesen.

Einmal in der Woche hatte ich Klavierunterricht in Ost-Berlin. Ich bin nahe der Wohnung meiner Eltern in die S-Bahn gestiegen, bis zum Bahnhof Friedrichstraße gefahren, einmal durch die Grenze durch, ohne kontrolliert zu werden, auf der anderen Seite der Friedrichstraße wieder hoch und dann weiter zum Ostkreuz gefahren zu einer Freundin meiner Eltern, die Klavierstunden gab. Das war schon irre: Innerhalb von einer Stunde durch eine für viele Menschen nicht durchlässige Grenze zu gehen und auf der anderen Seite in einer komplett anderen Welt weiterzufahren und dann abends wieder zurück.
Nach dem Mauerfall war es "in", im Osten zu feiern
Ich bin damals viel in Ost-Berlin ins Theater gegangen, in die Oper, zu Konzerten. Für meine West-Berliner Freunde war das aber nicht so ein Thema. Ich fand es dann eher nach dem Mauerfall komisch, als meine Freunde aus Charlottenburg anfingen, nur noch in den Osten zu fahren. Da entstanden viele Clubs, und es war total "in", dahinzugehen.
Nach dem Abitur bin ich zum Jurastudium nach Münster gegangen. Da habe ich meine Frau kennengelernt, die aus Bremen kommt. Ich wäre auch gern wieder nach Berlin gegangen, aber wie das so ist, sind Bremer ja oft heimatverbunden, und so bin ich seit 1997 hier. Ich weiß gar nicht, ob ich heute in Berlin leben wollte. Ich fühle mich hier wohl. Man kann hier in Bremen mit Kindern toll wohnen.
Die Mauer als Symbol: War die DDR ein Unrechtsstaat?
Mit dem Mauerbau an sich verbinde ich nichts, denn zu der Zeit gab es mich noch nicht. Die Mauer war aber in meinem Alltag in Ost- wie in West-Berlin ständig präsent. Für viele ist sie ein Symbol. Ist die DDR ein Unrechtsstaat gewesen oder nicht? Das ist eine immer wiederkehrende Diskussion. Ich würde sagen: Natürlich ist die DDR ein Unrechtsstaat gewesen. Da denke ich an die problematische Rechtsprechung, Staatsmacht, Doktrin – und natürlich an die Mauer und den Schießbefehl.
Aber die Frage ist: Wer kann von wem fordern, das zu sagen? Wenn ein Westdeutscher von einem Ostdeutschen verlangt zu sagen, "Das war ein Unrechtsstaat", dann frage ich mich: Was soll das? Ein DDR-Bürgerrechtler, der so etwas sagt, hat jede moralische Berechtigung dazu. Aber wenn man hier warm und trocken sitzt und das von einem ehemaligen DDR-Bürger fordert, finde ich das schwierig. Denn für viele bedeutet das auch, dass ihre gesamte Biografie damit beschädigt wird. Man muss das sehr differenziert betrachten: Menschen können privat eine schöne Zeit erlebt haben, auch wenn sie in einem Staat gelebt haben, den man zu Recht scharf kritisiert.
Aufgezeichnet von Verena Patel.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 5. August 2021, 19:30 Uhr