Interview

Darum sind Ehrenamtliche so wichtig für Bremen und Bremerhaven

Eine Frau sortiert ehrenamtlich Gemüse und Obst bei der Tafel
Bei der Bremer Tafel engagieren sich viele Ehrenamtliche (Symbolbild). Bild: dpa

Engagement hilft, hat aber Grenzen. Der gebürtige Bremer und Soziologe Holger Backhaus-Maul erklärt, welche Rolle die Politik einnehmen sollte, um Engagement zu unterstützen.

Bremer helfen freiwillig und unentgeltlich – zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe, bei der Tafel oder auch in der Obdachlosenhilfe. Viele, wie Julia Heck vom Flüchtlingshilfenetzwerk Fluchtraum, neben ihrem Vollzeitjob. Julia Heck ist eine der Bremer Ehrenamtlichen, die buten un binnen in einer Sondersendung vorgestellt hat.

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Um das große Freiwilligennetzwerk in Bremen weiß der Soziologe und Verwaltungswissenschaftler Holger Backhaus-Maul als gebürtiger Bremer. Als Projektleiter des Forschungsinstituts für Gesellschaftlichen Zusammenhalt (FGZ) kennt er die Forderungen der Engagierten an die Politik: sozialpolitische Problemlösung und mehr Anerkennung.

Herr Backhaus-Maul, welche Funktion erfüllt Engagement und damit Ehrenamt in der Gesellschaft?

Engagement und auch Ehrenamt sind essenziell für eine demokratische Gesellschaft. In Bremen ist der soziale Bereich, wie die Bremer Tafel, die Obdachlosenhilfe und die Bahnhofshilfe beispielsweise, kleiner als der Bereich Sport und Freizeit. Es gibt keinen Bereich, in dem Engagement keine Rolle spielt.

Oft bringt uns die Debatte, die mit Engagement entsteht, weiter. Das gilt für das demokratische Engagement, das sich aus Konflikt, Zustimmung und Widerspruch ergibt.

Holger Backhaus-Maul, Soziologe und Verwaltungswissenschaftler

Aber Engagement ist nicht immer nur positiv. Das Engagement im rechtsradikalen Umfeld möchte Gesellschaft, Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat zersetzen.

Würden Sie sagen, freiwilliges Engagement übernimmt Pflichten, die eigentlich der Sozialstaat erfüllen müsste? 

Probleme werden im Engagement thematisiert und es wird versucht, Lösungen zu geben. Die Bremer Bahnhofsmission beispielsweise erbringt eine öffentliche Aufgabe, die Bahnunternehmen, Kommune und Staat nicht erfüllen. Tatsächlich wirkt Engagement oft innovativ auf den Sozialstaat. Es bündelt Ressourcen und setzt sich praktisch mit gesellschaftlichen Problemen auseinander. Engagement schafft Impulse und Ideen, ist aber kein "Ausfallbürgen" für die Politik.

Im Vergleich mit Politik und Verwaltung zeigt sich Engagement leistungsstark und eigensinnig. Wir wissen um die Grenzen des Sozialstaates – er kann und sollte nicht für "alles" zuständig sein. Freiwilliges Engagement handelt in Eigenregie. Die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft gilt es dann immer wieder auszuhandeln.

Wie sehen sie die in den sozialen Medien geteilte Position einiger buten un binnen-User, dass die Bremer Tafel sich dort engagiert, wo die Politik versagt? Sie sagen, dass der Staat die Grundbedürfnisse der Menschen, wie den Bedarf an Lebensmitteln, sichern soll.

Staatliche Sozialhilfe sichert auf der Basis des Existenzminimums ab. Die Tafeln bieten ein zusätzliches Angebot. Aber seit einiger Zeit ist unter der Inflation zu beobachten, dass die Tafeln zum Teil auch sozialstaatliche Leistungen erbringen. Sie werden sozialpolitisch aktiv und kritisieren: Die sozialstaatlichen Leistungen haben Mängel. Die Tafel tritt nicht mehr als Verwalter von Almosen auf, sondern bezieht eine gesellschaftspolitische Position.

Besonders in der Corona-Zeit kamen neue Bevölkerungsgruppen, darunter Studenten, zur Tafel, um das Angebot zu nutzen. Ist das ein Zeichen, dass die staatliche Hilfe in diesem Bereich misslingt und Ehrenamt "einspringt"?

Bafög reicht nicht, es liegt unter dem Sozialhilfeniveau. Wenn Studierende weggeworfene Lebensmittel sammeln oder einzelne Studierende die Tafel nutzen müssen, weil Bafög ihr Existenzminimum bei steigenden Mieten in Großstädten nicht sichert, ist das ein gravierendes sozialstaatliches und bildungspolitisches Problem. 

Die Tafel kann nur überbrücken und ist keine Dauerlösung. Ich finde es positiv bemerkenswert, dass die Tafel sozialpolitische Positionen bezieht. 

Holger Backhaus-Maul, Soziologe

Inwiefern sollte die Politik freiwilliges Engagement und Ehrenamt fördern?

Generell ist es sicherlich eine sozialstaatliche und Landes- sowie kommunale Aufgabe, Auslagenersatz bereit zu stellen. Das bedeutet eine Kostenreduzierung für einkommensschwächere Menschen, die sich engagieren wollen, aber es sich nicht ohne Probleme leisten können. Sei es, dass die Fahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr zum Ehrenamt übernommen wird, Aufwandsentschädigungen, die den Einsatz nicht zu einer finanziellen Belastung werden lassen. Durch solche Strukturen werden die Zugänge zum Engagement offener und integrativer gestaltet.

Wichtig sind zentrale Organisationsstrukturen, sodass jede Person eine Ansprechorganisation vor Ort weiß. Außerdem muss das Engagement-Verständnis moderner werden und es braucht bessere Koordination. Die unterschiedlichen Bereiche, unter anderem Sport, Kultur und Soziales existieren in Deutschland vielerorts getrennt und nebeneinanderher. In Bremen war die Gründung der Freiwilligenagentur eine wichtige Entscheidung, um über Verbändegrenzen hinaus Engagement zu fördern.

Wenn Ehrenamt, wie sie sagen, "essenziell" ist, bekommt es die Anerkennung, die es verdient? 

Man kann das politische Handeln deutlich kristisieren, wenn es um die Anerkennung geht. Kaum jemand fragt Engagierte: Wie würdet ihr euch Anerkennung wünschen? In Interviews, die wir führen, sagen uns viele: Auf eine Medaille, warmen Händedruck und kaltes Buffet, darauf kann ich verzichten. Es braucht für Engagement eine öffentliche und gut zugängliche Infrastruktur, eben Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen, Profis für Engagement in Vereinen.

Das ist eine kommunale Aufgabe, für die es Personal- und Sachkosten braucht. Wenn Politik und Verwaltung Engagement fördern wollen, muss man dies mit Geld und Ressourcen, auch personell, hinreichend unterstützen. Es ist eine kommunale Daueraufgabe und es braucht kommunale Daueraufträge.

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen vom 1. April 2024, Sondersendung um 19:30 Uhr