Interview
Bremen, sicher wie nie? Kriminologe zerpflückt die Polizeistatistik
Die Sicherheit der Menschen ist ein großes Wahlkampfthema. Dabei geht die Zahl der Straftaten im Land Bremen zurück, sagt ein Kriminologe. Er ordnet die Zahlen ein.
Ob auf den Plakaten oder zumindest in den Wahlprogrammen: Fast alle Parteien erheben die Sicherheit auf Bremens und Bremerhavens Straßen zu einem der Schlüsselthemen in ihrem Wahlkampf zur Bremischen Bürgerschaftswahl am 14. Mai. Sie versprechen den Menschen mehr Schutz vor Straftaten. Dabei stützen sie sich gern auf Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik beziehungsweise auf die Schlüsse, die die Polizei aus den selbsterhobenen Daten zieht.
Ein schwerer Fehler, sagt der Bremer Kriminologe Johannes Aschermann. Aus seiner Sicht zeigt die Kriminalstatistik vor allem, dass die Kriminalität im Land Bremen rückläufig ist. Ansonsten sei diese Statistik nicht mehr als ein Arbeitsnachweis der Polizei. Wir haben mit Aschermann darüber gesprochen, wie man Bremens und Bremerhavens polizeiliche Kriminalstatistik richtig liest.
Herr Aschermann, der Direktor der Ortspolizeibehörde in Bremerhaven, Volker Ortgies, hat mit Blick auf die Kriminalstatistik 2022 festgestellt, dass es eine zunehmende Tendenz in der Gesellschaft gibt, Probleme mit Gewalt statt durch Kommunikation zu lösen. Können Sie das bestätigen?
Nein. Für einem solchen Befund fehlt es mir an Belegen. Auch, wenn die Polizeibehörde das vielleicht anders wahrnimmt.
Herr Ortgies stützt sich unter anderem auf die Zahlen zu Körperverletzungen und zu Raubdelikten in Bremerhaven. Die Zahlen hierzu sind gegenüber dem Vorjahr gestiegen…
Nehmen wir mal das Beispiel der Raubdelikte in Bremerhaven. Da ist im Vergleich zum Jahr 2021 tatsächlich ein deutlicher Zuwachs zu verzeichnen: von 151 auf 191 Fälle in 2022. Wenn man die Zeitreihe aber etwas weiter zurück verfolgt, dann stellt man fest, dass die Polizei im Jahr 2018 194 Fälle registriert hat und im Jahr 2014 224 Fälle.
Um gesellschaftliche Tendenzen zu beschreiben, muss man größere Zeiträume betrachten, als Herr Ortgies es hier getan hat. Die Zahl der Raubdelikte in Bremerhaven ist seit Jahren relativ konstant. Die kleinen Schwankungen sind völlig normal. Gleiches gilt im Prinzip auch für die Zahlen zu den Raubdelikten aus Bremen. Abgesehen davon finde ich es aber auch problematisch, verschiedene Gewaltdelikte über einen Kamm zu scheren. Da muss man unterscheiden.
Raubdelikte in der Stadt Bremen
Raubdelikte in Bremerhaven
Inwiefern muss man zwischen Gewaltverbrechen und Gewaltverbrechen unterscheiden, um festzustellen, dass Probleme zunehmend durch Gewalt statt durch Kommunikation gelöst werden?
Es geht damit los, dass Gewalt eben nicht ausschließlich der Konfliktlösung dient. Oft genug gibt es für Gewalt überhaupt gar keinen tiefer gehenden Grund, der irgendwie rechtfertigend angeführt werden könnte – auch wenn es von den Tätern in der Nachbetrachtung häufig so dargestellt wird: "Der andere hat mich schief angeguckt, und das hat mich gestört", oder so ähnlich. Tatsächlich würde ich hier eher von Selbstzweck reden: Der eine beleidigt den anderen, der beleidigt zurück, das Ganze schaukelt sich bis zur Gewalt hoch. Das ist eher etwas Ritualisiertes, es gibt aber keinen grundlegenden Konflikt zu lösen.
Und das gilt auch für Raubdelikte: Da kommt es auch nicht zu Gewalt oder zur Androhung von Gewalt, um einen Konflikt beizulegen. Der Räuber möchte sich bereichern. Und weil er es ohne Gewalt nicht schafft muss er Gewalt einsetzen. Daher eignen sich Raubdelikte nicht, um daran eine Tendenz zu mehr Gewalt als Konfliktlösungsmittel aufzuzeigen.
Wie sieht es mit Körperverletzungen aus? Da verzeichnet man in Bremen und in Bremerhaven doch auch einen gewissen Zuwachs. Mit der Einschränkung für Bremen, dass die Statistik für 2022 gegenüber 2021 einen Rückgang ausweist, laut Polizei aber wohl nur, weil viele Fälle aus 2022 erst dieses Jahr aufgearbeitet werden könnten. Sind diese Körperverletzungen kein Indikator für eine zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft?
Möglicherweise, aber nicht zwingend. Denn es gibt auch Fälle von Körperverletzung, die nichts mit vermeintlicher Konfliktlösung zu tun haben. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Es kann auch sein, dass zuletzt einfach mehr Körperverletzungsdelikte angezeigt worden sind als zuvor. Denn in der Regel erfasst die Polizei einfache Körperverletzungen nur dann, wenn es einen Anzeigenden gibt.
Schließlich kann es auch zu mehr Körperverletzungen gekommen sein, weil es einfach mehr Anlässe dafür gab als sonst. Blicken wir noch einmal nach Bremerhaven. Die Maritimen Tage waren 2022 sehr gut besucht. Es waren etwa 400.000 statt 350.000 Leuten da, darunter viele Auswärtige. Das allein heißt: Es waren wegen der Maritimen Tage bis zu 50.000 Leute mehr in Bremerhaven als gedacht – um potenziell zu Tätern oder zu Opfern zu werden.
Bei 50.000 Leuten kann man sich gut vorstellen, dass es am Rande solcher Großveranstaltungen, bei denen ja auch viel getrunken wird, zu der einen oder anderen Schlägerei gekommen ist. Wir wissen es zwar nicht. Aber der Effekt dieser oder anderer Großlagen kann sein, dass die Kriminalstatistik für das betreffende Jahr mehr Körperverletzungen ausweist als für andere Jahre. Das hat dann aber nichts mit irgendwelchen Trends zu tun. Insbesondere, weil wegen Corona 2021 viele große öffentliche Feste ausgefallen waren, ist ein Anstieg von Körperverletzungs-Delikten in 2022 nicht verwunderlich, sondern war zu erwarten.
Körperverletzungen in der Stadt Bremen
Körperverletzungen in Bremerhaven
Trotzdem ist die Gewalt im öffentlichen Raum ein Thema, das die Menschen im Land Bremen sehr beschäftigt. Es gab 2022 eine Raubserie in der Bremer Innenstadt und mehrere Gewaltdelikte im ÖPNV. Wie sicher sind Bremen und Bremerhaven?
Schwer zu sagen. Bleiben wir mal bei den Körperverletzungen. Dazu lässt sich feststellen, dass die Zahlen der einfachen und auch der gefährlichen Körperverletzungen 2022 in der Stadt Bremen deutlich niedriger waren als 2021, während sie in Bremerhaven leicht gestiegen sind. Folgt man der Interpretations-Logik von Herrn Ortgies, hieße das, dass es in Bremerhaven eine zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung gibt, in Bremen dagegen die gegenläufige Tendenz. Wer soll das glauben?
Das Innenressort teilt zu dem Rückgang bei den Körperverletzungen in der Stadt Bremen mit, dass die Kriminalstatistik nicht das vollständige Geschehen abbilde, "da ein größerer Anteil der niedrigschwelligeren gefährlichen Körperverletzungs-Delikte 2023 in Bearbeitung genommen" werde.
Das mag so sein. Aber: Der Rückstand bei der Bearbeitung der Fälle ist kein exklusives Thema für Fälle von Körperverletzung. Und dass Straftaten in einem Jahr begangen und erst im anderen registriert werden, ist auch normal. Das trifft auf fast alle Deliktsbereiche zu. Die Zahlen der Kriminalstatistik können nur sehr bedingt etwas über die Sicherheitslage, über die Kriminalitäts-Wirklichkeit und über die Gefahr für den einzelnen Bremer oder Bremerhavener aussagen. Selbst wenn sich an diesen Zahlen viel ändert, kann es trotzdem sein, dass der Einzelne genauso sicher oder unsicher lebt wie im Vorjahr oder im Jahr davor.
Welche Schlüsse können die Bremerinnen und Bremer dann überhaupt aus der Kriminalstatistik ziehen?
Es gibt eine ganz deutliche Tendenz: Die Gesamtkriminalität in Bremen und in Bremerhaven ist seit vielen Jahren rückläufig – sowohl absolut gesehen, als auch pro 100.000 Einwohner. Darüber hinaus ist die Kriminalstatistik nicht viel mehr als der Arbeitsnachweis der Polizei. Sie zeigt, was für Strafanzeigen erfasst worden sind und wie viele Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden sind. Was danach passiert ist, ob die ganzen Körperverletzungsdelikte überhaupt angeklagt worden sind, ob ein Gericht zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen ist, ob es zu einer Verurteilung gekommen ist – das ist alles überhaupt nicht gesagt.
Gesamtkriminalität im Land Bremen
Trotz des Rückgangs der Kriminalität ist Innere Sicherheit, auch aufgrund der Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik, ein großes Wahlkampfthema im Land Bremen. Die CDU fordert zum Beispiel, dass Bremen mehr Polizisten einstellen soll. Was sagen Sie dazu?
Die Innere Sicherheit ist immer ein dankbares Wahlkampfthema. Denn das ist ein Thema, das jeden betrifft. Niemand möchte in einer unsicheren Stadt leben. Prinzipiell halte ich es auch für eine gute Idee, wenn man sich die Belastung der Polizei anguckt, zu sagen: Wir müssen dafür sorgen, dass die Polizei besser aufgestellt ist.
Andererseits ist es aber auch so, dass Kriminalität in einer freien Gesellschaft, wo sich die Menschen frei bewegen können, als Normalfall verstanden werden muss. Es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, die frei von Kriminalität gewesen wäre. Und das wird es auch nie. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir ganz viele Polizisten einstellen. Und daran wird sich auch durch die Bürgerschaftswahl nichts ändern. Egal, wer gewinnt.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 18. April 2023, 19:30 Uhr