Diese Bremerin mit Behinderung lebt in ihrer eigenen Wohnung
Die Landesbehindertenbeauftragten treffen sich in Bremen. Sie besprechen, wie Menschen mit Behinderung möglichst selbstbestimmt leben können – so wie es Aisha Nagel gelingt.
Die Bremerin wohnt in einer typischen Wohnstraße in Walle: Altbremer Häuser und Kopfsteinpflaster. Zu dem Eckhaus ins Hochparterre führt ein sanft geschwungener Weg. Die Türklinke ist niedriger als gewöhnlich. So kann Aisha Nagel ihn auch aus dem Rollstuhl bedienen. Durch eine Gehirnblutung noch vor ihrer Geburt ist die Bremerin mehrfach schwerstbehindert, körperlich und geistig eingeschränkt. Damit die 30-Jährige in ihrer Wohnung zurechtkommt, hilft ihr ihre Assistentin Marina May. "So denn mal los, gerade durch. Hände aufn Schoß, dass du dich nicht klemmst", sagt sie. Und Aisha Nagel fährt in ihrem Rollstuhl durch die Eingangstür.
Ihr ganzes Leben lang lebt Aisha Nagel in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Als sie 16 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Auch danach kann die Bremerin in ihrer Wohnung bleiben: mit einem rechtlichen Betreuer an ihrer Seite und einem ganzen Team von Assistenten. Das ist besonders, denn viele Menschen mit schwerer Behinderung leben in einem Heim. Dahin möchte die 30-Jährige nicht, sondern zu Hause von Assistenzen wie Marina oder Kirsten betreut werden.
Ich möchte gerne, dass ich heute Kirsten in mein Haus bekomme und das behalten möchte, das Bett, das Haus. Hier in Bremen Walle. Nummer 67.
Aisha Nagel
Sie schaut auf die orangegelben Vorhänge und die Pflanzen in ihrer Wohnung und grinst. Ihre braunen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Das Sprechen fällt ihr nicht immer leicht, aber sie kann sagen, was sie möchte.
So viel Selbstbestimmung wie möglich
Werktags geht Aisha Nagel am Vormittag in die Werkstatt Bremen beim Martinshof. Am Nachmittag und auch in der Nacht ist eine Assistenz bei ihr. "Ich werde immer mit Radio, Korsett und Orthesen aufgestanden. Dann hilft Jamil, der Nachtdienst. Das ist gut. Erst Frühstück in der Küche. Dann gehe ich zum Bus zur Werkstatt", erzählt Aisha Nagel. Hinter dem hellen Eingangsbereich mit großen Fenstern an beiden Seiten, geht es in eine kleine Küche. Schränke, Herd und Kühlschrank sind so niedrig gebaut, dass Aisha Nagel sie vom Rollstuhl aus erreichen kann.
An diesem Nachmittag möchte sie Einkaufen gehen. Ihre Assistentin sitzt mit ihr an einem Holztisch. "Was möchtest du?", fragt Marina May und notiert die Antworten auf einem Zettel. "Radieschen und Birne", antwortet Aisha Nagel, "und die kleinen Bananen".
Marina May betreut die 30-Jährige seit 14 Jahren. Sie findet es wichtig, dass sie so selbstbestimmt wie möglich leben kann. "So wie sie sich mir gegenüber äußert, ist das für sie Freiraum: selbst zu entscheiden, ich gehe einkaufen, selbst zu entscheiden, was koche ich, selbst zu entscheiden, was sie in ihrer Freizeit machen möchte", sagt May.
Sie liebt ihr Zuhause. Sie sagt dann: Ich kann nur in meinem eigenen Bett gut schlafen.
Marina May, Assistentin von Aisha Nagel
Besonderes Betreuungsmodell ermöglicht Selbstbestimmung
Aisha Nagel dieses Leben zu ermöglichen, funktioniert. Bei diesem Arbeitgebermodell mit trägerübergreifendem Budget sind alle Leistungsträger zusammengefasst in einem Budget. Das ist alles andere als einfach: Es braucht viele Anträge, ein gutes Assistenzteam und einen engagierten rechtlichen Betreuer. "Für mich ist eine Herausforderung, ein Team hier zusammen zu halten. Dass sie alle in eine Richtung arbeiten und wenn Personal geht, auch neues Personal zu besorgen. Das ist die größte Herausforderung überhaupt, dass es zu wenig Fachkräfte gibt", sagt Marina May. Ein weiteres Problem seien die knappen Finanzen und, dass das Personal auch mal entlastet werden kann. "Jeder hat einen Anspruch auf Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege. Der Stand ist aber so: Es gibt keine Einrichtung, die momentan Kurzzeitpflegen praktizieren können, wahrscheinlich, weil sie das gleiche Problem wie wir auch haben, kein Personal", sagt Marina May.
Trotz allen Schwierigkeiten ist diese Wohn- und Lebensform möglich. Sie ist aber eher die Ausnahme, sagt Bremens Landesbehindertenbeautragter Arne Frankenstein. Bremen sei mit Quartierswohnangeboten, Wohngruppen und individuellen Wohnformen teilweise schon auf einem guten Weg und weiter als die meisten Flächenländer. "Dennoch müssen wir da weiter dran arbeiten und Inklusion nicht nur vorantreiben, wenn wir gerade Geld haben", betont Bremens Behindertenbeauftragter.
Wir müssen wegkommen von diesem Gedanken, dass behinderte Menschen und nicht behinderte Menschen nicht die ganze Zeit zusammen sein können. Das können sie. Das sehen wir überall da, wo es gut funktioniert.
Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter
Bevor Aisha Nagel an diesem Tag mit Marina May zusammen zum Supermarkt geht, muss sie sich noch einmal ausruhen. Hinter der Küche liegen das Bad und ihr Zimmer. Um ihr Bett ist die Wand pink und mit schwarz-weißem Zebramuster gestrichen. Auf ihrem Schreibtisch steht eine lilafarbene Musikanlage. "Übernimmst du den Schalter gleich vom Lifter? Einmal den Bügel nach unten fahren", sagt Marina May. Aisha Nagel drückt auf den Knopf einer kleinen Fernbedienung. Es summt und sie wird mit ein paar gepolsterten Gurten aus ihrem Rollstuhl gehoben. "Ich fahr mal dein Bett ein bisschen hoch und ich mach mal meinen Arm in deinen Nacken rein, damit du dich locker runterlegen kannst“, sagt Marina May und legt Aisha behutsam auf dem Bett ab.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, der Nachmittag, 14. November 2024, 16:45 Uhr