Wie die Bilder des schiefen Turms von Bremerhaven um die Welt gingen
Es begann am 18. August mit der eingesackten Mole. Doch schon bald wurde der schiefe Turm von Bremerhaven weltbekannt. So wurde die Causa Molenturm zum globalen Medienereignis.
Tagelang schauten Bremerhaven, Bremen und ganz Deutschland auf den schiefen Turm. Kippt er oder ist er noch zu retten? Der Molenturm wurde zu einem Medienereignis. "Ich arbeite seit 40 Jahren an der Schnittstelle zwischen Journalismus, Politik und Verwaltung. Aber so etwas wie beim Molenturm habe ich noch nicht erlebt – bei Senatorenrücktritten oder anderen großen Problemen in der Stadt nicht. So viele Journalisten so lange auf einem Haufen, mit so unterschiedlichen Interessen, das war ganz besonders", sagt Holger Bruns, Sprecher von Bremenports.
"Er gilt als eines der Wahrzeichen von Bremerhaven", berichtet damals die Tagesschau. "Wenn ein Leuchtturm in Schieflage gerät, geht die Orientierung verloren." Im August 2022 ist Bremerhaven bundesweit in den Schlagzeilen. In Dänemark, Großbritannien und sogar den USA wird berichtet.
Der 18. August hätte für Holger Bruns von Bremenports ein ruhiger Donnerstag in den Sommerferien werden können. Doch es kommt anders: "Ich mache morgens immer so gegen 7 Uhr mein Handy an. Da war dann ein Bild von dem schiefen Turm. Um 6:53 Uhr war das gekommen, darunter stand: 'Oh Schreck!'"
Turm strahlt über Bremerhaven hinaus
Die Wucht, die von dem Bild ausging – ein schiefer Turm mit roter Haube, vor solcher Kulisse, in der Öffentlichkeit – dass das ein Riesen-Thema wird, sei ihm sofort klar gewesen, erinnert sich Bruns.
An Tag eins stehen erstmal Schreck und Erstaunen im Mittelpunkt. Die seit Jahren baufällige Mole war über Nacht abgesackt. Nun steht der Turm schief. Für alle sichtbar an der Einfahrt zum Fischereihafen.
Holger Bruns, Bremenports-Sprecher
Auch Maike Wessolowski, Lokalreporterin bei der Nordsee-Zeitung, hat das Bild gleich morgens auf dem Handy. Und weiß sofort: Das wird eine Riesen-Story. Sie sei gleich losgeeilt. Die Nachricht verbreitet sich schnell. Denn der schiefe Turm löst Gefühle aus bei den Menschen in Bremerhaven – er war jahrzehntelang ein Symbol der Stadt und liebgewonnene Kulisse. Immer da, beim Arbeitsweg auf der Weserfähre oder der Windjammerparade. Nun bleibt irgendwas zwischen Wut und Wehmut.
"Es ist ein Wahrzeichen von Bremerhaven. Soweit ich zurückdenken kann, steht diese Mole hier", heißt es von einer Seniorin. "Armes Bremerhaven, es geht so viel weg vom alten Bremerhaven", sagt eine andere Frau wehmütig. Und alle treibt eine Frage um: Bleibt er stehen oder fällt er um? "Ich glaube, dass er erst schief stand und nicht sofort umgekippt ist, hat dazu beigetragen", sagt Wessolowski. "Das hat so ein Momentum von, man kann noch dabei sein – passiert noch was?"
Bergungsponton trifft an Tag 3 ein
Die Verantwortlichen von Bremenports haben zu diesem Zeitpunkt andere Sorgen. Sie wollen unbedingt verhindern, dass der Turm ins Wasser stürzt und die Schifffahrt lahmlegt. Deshalb klingelt nun das Telefon bei Jörn Haumüller. Mit seiner Firma im Fischereihafen ist er Experte für Bergungen auf See. Kräne und Schlepper müssen bestellt, ein Ponton auf Pier-Höhe gepumpt werden. In Koordination mit dem Hafen – eine Herausforderung. Vom Liegeplatz ist es nicht weit. Trotzdem dauert es zwei Tage, bis Haumüller mit seinem Ponton da ist.
An Tag 3 trifft der Ponton ein, sichert den Turm ab. Trotz schnell herbeigeschaffter Strohballen: Den Turm einfach umzukippen, kann nicht der Plan sein. Die denkmalgeschützte Kuppel soll erhalten bleiben. Sie sei nicht besonders schwer, man könne sie sicherlich abtrennen, so die Überlegungen. "Wir trennen und heben es ab, kein Problem, Materialien an Bord, technisch möglich, sicher auch", so Haumüller. "Hat sich dann als schwieriger herausgestellt, als wir dachten."
Gut geklickte Livestreams und Ticker
Die Arbeiten ziehen sich, tagelang beobachtet von Schaulustigen und Scharen von Journalistinnen und Journalisten. Nur passiert wenig. Das Interesse der Menschen ist trotzdem riesig. Die Nordsee-Zeitung richtet einen Liveticker ein. Auch buten un binnen zeigt im Netz einen Livestream. Rund um die Uhr ist die Kamera auf den Turm gerichtet. Und obwohl nicht allzu viel passiert, brechen die Zugriffszahlen Rekorde.
Für ihn sei es wie ein Brennglas auf der Medienentwicklung gewesen, sagt Bruns. "Die Klickzahlen bestimmen doch sehr stark das journalistische Geschäft inzwischen", so der Bremenports-Sprecher. Und wenn die wie beim Molenturm in die Höhe schießen, müsste eine Redaktion liefern, "ob sie will oder kann oder nicht." Aus Sicht von Wessolowski ein üblicher Vorgang.
Die Liveberichterstattung, die Ticker sind total gut verfolgt worden – warum soll man das nicht begleiten als Journalist? Das ist ja tatsächlich spannend.
Maike Wesolowski, Nordsee-Zeitung
Die Journalisten stellen auch kritische Fragen an Häfensenatorin Claudia Schilling und die Verantwortlichen von Bremenports. Wie konnte das passieren? Es war doch seit Jahren bekannt und offensichtlich, dass die Nordmole sanierungsbedürftig ist. Die Mole sei seit Jahren gesperrt gewesen, entgegnet Schilling. Man habe grundsätzlich um ihren Zustand gewusst und ein Monitoring gehabt. Aber: "Prognosen sind immer schwer zu treffen, diesmal war sie schlicht falsch." Auch Bruns sagt: "Wann so ein Ereignis eintritt, kann keiner vorhersagen."
Lösung endlich gefunden?
An Tag sechs nach dem Einsturz der Mole glauben die Experten, eine Lösung gefunden zu haben. Mit einem speziellen Wasserschneider soll die Stahlkuppel abgetrennt werden. Das dauert. Nach zwei Tagen erst ist das Gerät fertig. Nun soll die Kuppel mit Hilfe eines Krans angehoben werden. Doch es bewegt sich nichts. Großes Rätselraten. Es stellt sich heraus: Die Kuppel ist innen durch zusätzliche Stahlteile mit dem Turm verbunden. Das weiß keiner. Bis sich ein Arbeiter aus dem Ruhestand meldet.
Da haben wir einen guten Tipp eines älteren Kollegen bekommen, der damals die Verstärkung mit seinem Azubi in den Turm eingebaut hat.
Jörn Haumüller, Bergungsexperte
Tag neun: Die Stahlteile im Turm sind durchgesägt. Nun kann die Kuppel endlich angehoben werden. Um 15:03 Uhr ist es soweit. Der Moment auf den alle gewartet haben: Die Kuppel schwebt davon. Haumüller und sein Team haben ihre Aufgabe gelöst, Bremerhavens Wahrzeichen gerettet. Dabei habe eine besondere Arbeitsmoral geherrscht, erinnert sich der Bergungs-Experte: "Wenn man drei Stunden länger macht oder fünf oder zehn, die Leute sind da – nicht, weil man sagt, du musst, sondern, weil sie wollen: Sie wollen den Erfolg sehen."
Turm geht, Imageschaden bleibt
An Tag zwölf muss der Rest des Turms dran glauben. Die historischen Backsteine werden für den Wiederaufbau eingelagert. Die Abrissarbeiten sind bald beendet, der Imageschaden für Bremerhaven aber bleibt. Nun lagert die Kuppel im Hafen. Nach minutiösen Plänen will Bremenports den Turm bis 2026 an alter Stelle wieder aufbauen. Bruns glaubt, er werde dann nochmal eine andere Strahlkraft haben. Bleibt Zeit zur Aufarbeitung.
Es ist eine Lehre, dass wir sagen: Wir müssen einfach in unsere Infrastruktur Geld investieren, um sie zu erhalten. Damit solche Dinge nicht passieren.
Claudia Schilling, damalige Häfensenatorin
Die Menschen in Bremerhaven jedenfalls gehen kreativ mit der Sache um. Zwei Graffiti-Künstler verewigen den Turm auf einer Hauswand. Das fehlende Wahrzeichen hinterlässt dennoch eine offene Wunde in der Stadt.
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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 27. Juli 2023, 19:30 Uhr