Kommentar
Die Gladbecker Geiselnehmer und die Rolle der Medien
Peter Zudeick räumt mit dem Vorurteil auf, dass mit einer Rundum-Schelte an die Medien alles gesagt sei. Dabei wäre wohl jeder Kollege ins Auto gestiegen und den Gladbecker Geiselnehmern hinterhergejagt. Hier machen sich viele ein Urteil leicht, die nicht dabei gewesen sind. Zudeick selbst schwankt zwischen Empörung und Betroffenheit.
Man glaubt ja, mit dem Thema schnell fertig zu sein. Gladbeck und die Folgen – das war eine Rundum-Katastrophe. Ein völliges Versagen des Rechtsstaates, der durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalens (NRW) unter Ministerpräsident Rau und Innenminister Schnoor systematisch zum Affen gemacht wurde. Eine unfähige Polizeiführung, die – auch unter dem Druck der Politik – zuließ, dass ein gefährliches Räuberpärchen entwischte und dann über 50 Stunden kreuz und quer durch die Republik kutschierte. Von Nordrhein-Westfalen nach Niedersachsen, Bremen und über die Niederlande zurück nach NRW.
Die Journalisten schufen den Geiselnehmern ein öffentliches Forum
Die Verbrecher fahren mit ihren Geiseln planlos umher, die Polizei planlos hinterdrein. Obwohl der Film längst in Niedersachsen spielt, führt die Polizei in Gladbeck Regie. Mindestens zwei Zugriffsmöglichkeiten werden so verpasst. Und als die Geiselnehmer in Bremen ankommen, ist die Katastrophe perfekt: Zum einen wegen des Chaos bei der Bremer Polizei, zum anderen, weil inzwischen Journalisten bei der wilden Hatz auf die Verbrecher mitmischen.
Was in Bremen und anschließend in Köln passiert, ist ein Tiefpunkt des deutschen Journalismus, eine Perversion sondergleichen. Zeitungsreporter, Fernseh- und Rundfunkleute schaffen zwei Tage lang ein öffentliches Forum für die Verbrecher, ohne dass die Geiseln davon hätten profitieren können. Das ist der entscheidende Punkt: Wären Journalisten angesichts der umfassenden Unfähigkeit der Polizei in der Lage gewesen, die Geiselnehmer von den Geiseln abzulenken, hätten sie so oder anders zur Befreiung der Geiseln beitragen können, dann ließe sich darüber reden.
Die Welt war anscheinend verrückt geworden
Aber nichts dergleichen passierte. Die Journalisten fotografierten, filmten, plauderten mit den Verbrechern, führten regelrechte Interviews, ein Fotograf, der noch nicht richtig zum "Schuss" gekommen war, bat: "Halten Sie ihr doch noch einmal die Knarre an den Kopf!" Was prompt geschah. Nicht nur Boulevardjournalisten haben da den letzten Rest Berufsehre in den Dreck getreten, sondern auch Vertreter sogenannter seriöser Medien.
Und man sah das Ganze im Fernsehen oder hörte Radio und fragte sich: Warum riegelt die Polizei nicht endlich den Platz zwischen Dom und WDR in Köln ab? Da hielten die Geiselnehmer nämlich Hof. Warum hauen die Kollegen nicht endlich mit ihren Kameras und Mikrofonen ab, damit die Polizei ihre Arbeit machen kann? Wie kann es nur sein, dass ein Boulevard-Reporter zu den Verbrechern ins Auto steigt, um sie aus der Kölner Innenstadt zu lotsen? Ist denn alle Welt verrückt geworden? Ja, so war es. Alle Welt war verrückt geworden.
Berufsehre mit Füßen getreten
Und diese Verrücktheit ließ kaum jemanden aus. Auch mich nicht. Ich hatte die ganze Zeit in meinem Bonner Büro gearbeitet und das Geschehen im Radio verfolgt, hatte mich geschämt und geekelt. Als dann berichtet wurde, das Täter-Auto fahre einen bestimmten Autobahnabschnitt und keiner wisse, wohin sie jetzt wollten, war mir klar: Die wollen auf die A3 Richtung Frankfurt. Und schon saß ich in meinem Auto und machte mit bei der Jagd. Als die Polizei in Höhe Bad Honnef/Linz zugriff, stand ich in fünfter oder sechster Reihe. Und ich hörte, wie ein Kollege, der weit, weit hinter mir war, live im Radio vom Ende der Show berichtete, als stünde er ganz vorne. So viel zu Massenhysterie und journalistischer Ehre.
So schnell ist man mit dem Thema also doch nicht fertig.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, 16. August 2013, Der Morgen, 6:20 Uhr