Die Reporter waren sich der Gefahr nicht bewusst
Noch lange nach der Tat stehen nicht nur die Polizei, sondern auch die Medien in der Kritik. In der aufflammenden Diskussion verpflichten sich die Journalisten zu einer Art Ehrenkodex. Interviews mit Kriminellen oder deren Geiseln am Tatort soll es nicht mehr geben. Radio-Bremen-Reporter Dirk Blumenthal war damals dabei und erzählt, wie er diesen Tag erlebt hat.
Wie haben Sie den Tag erlebt, als Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski den Bus in Bremen-Huckelriede entführten?
Dirk Blumenthal: Es war schon irgendwann mittags klar, dass die Geiselnehmer hier in der Gegend unterwegs sind. Man kann sich ja vorstellen, dass in der Redaktion ziemliche Hektik ausbrach. Und es waren dann auch schnell Kollegen unterwegs, um Bilder von dem "Konvoi" aus Gangster- und Polizeiautos zu kriegen. Als dann der Bus in Huckelriede gekapert wurde, ist ein Kollege mit einem Kamerateam sofort dahin gefahren und hat gedreht. Einen der Geiselnehmer bekam er vor die Kamera. Er hat ein regelrechtes Interview mit ihm gemacht, und das wurde auch gesendet.
Wann war klar, dass auch Sie mit einem Kamera-Team drehen sollten?
Das hat sich abends so ergeben. Es kam die Meldung, dass der Bus losgefahren und auf der Autobahn Richtung Hamburg unterwegs sei. Mein Kollege musste aus Huckelriede zurück, um sein Material zu bearbeiten. Da war klar, jemand anders muss hinterher, und das habe ich dann übernommen. Wir sind also sofort los. Auf der Fahrt haben wir mitbekommen, dass der Bus an der Raststätte Grundbergsee gehalten hat. Da sind wir dann hin.
Da war nichts abgesperrt?
Da war überhaupt nichts abgesperrt. Wir haben unseren Wagen auf dem Parkplatz abgestellt und sind rübergelaufen Richtung Tankstelle, wo der Bus stand. Da kam uns ein Polizist in zivil entgegen. Den kannte ich, und ich habe ihn gefragt, wo wir denn hin könnten. Die Antwort war so etwas wie: "Macht doch, was ihr wollt." Und dann haben wir eben gemacht, was wir wollten.
Wie war die Stimmung dort?
Merkwürdig wenig angespannt. Das war eine ganz seltsame Atmosphäre. Es war klar: Da ist eine Geiselnahme, die sind bewaffnet – aber wir konnten uns frei bewegen, und so richtig war man sich der Gefahr gar nicht bewusst. Man hat die eigentliche Dramatik der Situation kaum wahrgenommen.
Ab wann war Ihnen klar, dass hier etwas komplett falsch läuft?
Eigentlich von Anfang an. Da steht ein entführter Bus an einer Raststätte, und der ist nicht isoliert, da ist nichts von der Polizei abgesperrt. Gleich daneben fahren irgendwelche Privat-Autos an die Zapfsäulen und tanken. So was darf es eigentlich nicht geben. Als Journalist macht man dann eben seine Arbeit und nutzt den Freiraum, den es eigentlich nicht geben darf, auch wenn das rückblickend sicherlich teilweise zu weit gegangen ist. Ich habe da zum Beispiel ein Interview mit dem Geiselnehmer Dieter Degowski gemacht. In diesem Augenblick habe ich nicht darüber nachgedacht, ob man das darf in so einer Situation. Das Interview haben wir nie gesendet, und das war richtig so.
Dann wurde der Junge aus dem Bus erschossen. Wie haben Sie das erlebt?
Die Situation spitzte sich zu, als die Polizei die Geiselnehmerin Marion Löblich festgenommen hatte. Rösner und Degowski setzten der Polizei ein Ultimatum für die Freilassung und zogen sich mit allen Geiseln in den Bus zurück. Spätestens da war Schluss mit der relativ wenig angespannten Stimmung. Jetzt war jedem klar, wie gefährlich die Situation ist. Aber die Polizei blieb immer noch im Hintergrund. Dann hörte ich einen gedämpften Knall. Kurz darauf ging die Bustür auf und der Junge wurde rausgezogen. Anschließend ist der Bus weitergefahren, und wir sind zurück zum Sender.
Welche Lehren haben Sie aus dieser Erfahrung gezogen?
Meine Arbeit und die Arbeit meiner Kollegen kritischer zu sehen. Das heißt unter anderem: So ein Interview, wie das mit Degowski, würde ich heute nicht mehr führen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 17. August 2013, 19:30 Uhr