Kaffee, Klatsch, Hähnchenkeule: Wo der Dorfladen noch weiterlebt
Früher gab es Tante-Emma-Läden in fast jedem Dorf. Doch heute sind die Mini-Märkte nahezu ausgestorben – außer in Midlum, wo der Dorfladen mehr ist als nur ein Versorger.
Im geblümten Sommerkleid schlägt Gabriele Cierlitzki die Beine übereinander. "Gut, was haben wir noch?", fragt sie und beugt sich über den Zettel, der vor ihr auf der Tischplatte liegt. "Briefmarken brauchen wir, die 85-er", antwortet ihre Auszubildende Annika Klittmann und fährt mit dem Zeigefinger die Liste hinab. "Oh, und gelbe Säcke müssen wir noch bestellen."
Cierlitzki winkt ab. "Oh Gott!", stöhnt die 72-Jährige, während schon wieder ein Kunde mit einem "Moin!" in ihren Laden tritt. "Bis wir die kriegen, dauert das drei, vier Wochen, und dann sind die Leute wieder in Panik", schiebt Cierlitzki nach und richtet ihre dunkelrote Brille. Dann steht sie auf, huscht in ihre neue Edelstahlküche und nimmt die nächste Brötchen-Bestellung auf.
Asbest, Öltank und Bodenplatten
Die Ladenbesitzerin, die alle nur Gabi nennen, hat zwar alle Hände voll zu tun, ist aber zufrieden: Nach 14-monatiger Umbauarbeit ist sie wieder in ihren alten, rundum erneuerten Dorfladen eingezogen – wenn auch viel später als ursprünglich geplant. Doch Asbest, ein im Garten vergrabener Öltank und zu dünne Bodenplatten schoben die Rückkehr immer weiter nach hinten. Die Geduld aber zahlte sich aus. "Es ist richtig modern geworden", resümiert Cierlitzki.
Eigentlich brauche ich sogar ein bisschen Botox, damit ich bei meinem Alter noch zum Laden passe.
Dorfladen-Besitzerin Gabriele Cierlitzki
Laden im Corona-Herbst 2020 eröffnet
Vor rund vier Jahren stießen Cierlitzki und ihr Mann Helmut auf den damals noch leerstehenden Laden. Zufällig, bei einem Spaziergang durch das zwischen Bremerhaven und Cuxhaven liegende Midlum. In wenigen Wochen brachten sie mit Baumarktregalen, einer benutzten Kühltruhe und viel Herzblut neues Leben in den alten Bau – trotz Corona-Pandemie und trotz mancher Mahner. "Mein Steuerberater hat mich richtig zur Schnecke gemacht", erinnert sich die Ladenbesitzerin, die im benachbarten Cappel wohnt.
"Wie können Sie so was nur übernehmen?", hat er mich gefragt. Doch nachher hat er eine Tasse Kaffee bei mir getrunken und sich entschuldigt. "Frau Cierlitzki", meinte er zu mir, "ich muss ehrlich sagen, das kann funktionieren".
Dorfladen-Besitzerin Gabriele Cierlitzki
Der Steuerberater sollte Recht behalten: Der Laden entwickelte sich zu einem regelrechten Pilgerort. Selbst aus den Nachbardörfern verschlägt es die Leute regelmäßig nach Midlum. "Vor der Arbeit hole ich mir hier immer meinen Kaffee raus", sagt Jens Felkeneyer, der fast täglich in den Laden kommt. "Im Laufe der Zeit entwickeln sich sogar Freundschaften, das macht es aus."
Klatsch und Tratsch, wer darauf steht, ist hier goldrichtig.
Dorfladen-Kunde Jens Felkeneyer
Auch Barbara Scholz schaut nahezu jeden Tag vorbei: "Zum Einkaufen, Kaffee trinken und Leute treffen." Und auch wegen Gabi, erzählt sie: "Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck und auch auf der Zunge. Ihre anpackende Art mag man hier sehr." Marcel Rosenow ist mindestens alle zwei Tage zur Mittagsstunde da. "Brötchen oder Hähnchenkeulen, das schmeckt alles sehr gut hier", sagt der Stammkunde.
Der Laden ist ein ziemlicher Anlaufpunkt. Es wird ja immer weniger mit den kleinen Läden. So etwas im Dorf zu haben, ist doch schön.
Dorfladen-Stammkunde Marcel Rosenow
"Gabi, ich stehe hier im Wasser"
Einmal war Cierlitzki allerdings kurz davor, alles hinzuschmeißen. Denn im Advent 2021 – rund ein Jahr nach Eröffnung – starb ihr Mann Helmut. Doch damit nicht genug. "Eine Woche später hat man bei mir eingebrochen", erzählt Cierlitzki. "Zigaretten im Wert von 5.000 Euro, einfach weg." Noch eine Woche später der nächste Schock: Wasserrohrbruch.
Ich durfte morgens mal länger schlafen, da ruft Annika mich an und sagt: "Gabi, ich stehe hier im Wasser." Wenn man in so einer Situation ist, fragt man sich schon: Soll man weiterkämpfen?
Dorfladen-Besitzerin Gabriele Cierlitzki
Die 72-Jährige nahm den Kampf an. "Wenn ich das ankurbele und A sage", betont Cierlitzki, "muss ich auch B sagen". Mehr noch: Um ihre junge Mitarbeiterin zur Fachverkäuferin ausbilden zu können, machte die gelernte Zahnarzthelferin einen Ausbilderschein – und sorgte so für Irritationen bei der Industrie- und Handelskammer in Stade. "Die haben mich gefragt, ob ich meinen Personalausweis mitgenommen hätte, beim Geburtsdatum gebe es wohl einen Druckfehler", erzählt Cierlitzki lachend.
Nachdem ich meinen Ausweis vorgelegt hatte, waren die aber beruhigt. Und dann wollten die meine Geschichte wissen, weil man so was in meinem Alter normalerweise wohl nicht mehr macht.
Dorfladen-Besitzerin Gabriele Cierlitzki
Rund 150 Kunden pro Tag
Inzwischen besuchen täglich etwa 150 Kunden ihren Laden. Die ersten kommen um sechs Uhr morgens, die letzten gehen teils nach 19 Uhr – und das nahezu die gesamte Woche. "Wir arbeiten von montags bis montags", sagt Cierlitzki. Neben ihrer Auszubildenden beschäftigt sie noch eine Teilzeitkraft und zwei Aushilfen. Trotzdem hält sich die 72-Jährige selten weniger als zwölf Stunden am Tag im Laden auf. "Reich werde ich dadurch zwar nicht, aber ich merke: Mir tut es gut", sagt Cierlitzki.
Ich brauche einfach den Kontakt zu den Leuten.
Dorfladen-Besitzerin Gabriele Cierlitzki
Dass die Leute ebenso "Tante Gabi" und ihren Mini-Markt brauchen, blieb auch der Gemeinde nicht verborgen: Um die mehr als eine halbe Million teure Renovierung zu stemmen, unterstützte die Kommune die 72-Jährige sowohl finanziell als auch bei Förderanträgen. Der Laden hat sich durch den Umbau von 80 auf 120 Quadratmeter vergrößert, die ehemals weiße Fassade einen gelben Anstrich bekommen. Das Eis kommt nicht mehr nur aus der Truhe, sondern auch aus der Vitrine, Fischstäbchen und Fertigpizzen kühlen nun in beleuchteten Gefrierschränken.
Am beliebtesten sind jedoch wie eh und je die Schaumbananen, Lakritzbretzeln und Fruchtschlangen, die sich in den roten Boxen mit den durchsichtigen Klappen tummeln. Begehrt sind die gemischten Schlickertüten zwar auch bei jungen Käufern, mehr noch aber bei den erwachsenen Kunden.
Die kommen rein und wenn sie die zum ersten Mal sehen, haben die sofort ein Strahlen in den Augen und sagen: "Super! Das ist meine Kindheit, wie toll!"
Gabriele Cierlitzki
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Sonntag aus Bremerhaven, 8. September 2024, 10:40 Uhr