Masha Gessen unter Polizeischutz mit Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet
Die umstrittene Verleihung fand in Bremen am Samstag vor 50 Gästen statt. Die ursprünglich im Rathaus geplante Veranstaltung war nach Kritik an Äußerungen Gessens abgesagt worden.
Gessen — non-binär, in Russland geboren und aktuell in den USA lehrend — sorgte in den Tagen vor der Preisverleihung für Aufregung: In einem Essay im US-amerikanischen Magazin "New Yorker" verglich Gessen Gaza mit einem jüdischen Ghetto in der Nazizeit. Das war Anfang Dezember.
In den vergangenen Tagen sagten daraufhin der Bremer Senat und die Heinrich-Böll-Stiftung, die den Preis eigentlich seit Jahren mit dem Trägerverein vergeben, ihre Teilnahme ab. Bremens Finanzsenator und Bürgermeister Björn Fecker (Grüne) strich außerdem den für Freitagabend angesetzten Festakt in Bremer Rathaus. Die Preisübergabe wurde um einen Tag verschoben. Zunächst war das Institut Francais der neue Veranstaltungsort, am Vorabend dann die Absage: Es gebe Sicherheitsbedenken, so der Trägerverein.
Preisverleihung in Bremer Hinterhof
Deswegen wird Gessen letztlich in einem kleinen Atelier in einem Hinterhof im Viertel ausgezeichnet. Es ist eng, stickig, viele Leute müssen stehen, um überhaupt dabei sein zu können. Vor der Tür stehen mehrere Polizisten. Und doch scheinen sich Publikum und Masha Gessen wohl zu fühlen."Für mich bedeutet der Preis jetzt noch mehr. Es bedeutet mir sehr viel, dass die Jury bei ihrer Entscheidung für mich geblieben ist und auch, dass Menschen hierherkommen sind", sagte Gessen.
Die Ironie ist natürlich, dass die Kontroverse jetzt viel mehr Aufmerksamkeit auf meine Argumentation in dem Essay gezogen hat, als es ursprünglich der Fall war.
Preisträgerin Masha Gessen
Der Bremer Senat hatte vor der Preisvergabe erklärt: Sowohl die Vergabe des Preisgeldes von 10.000 Euro an Masha Gessen als auch die Übergabe des Preises in Bremen sei Sache des unabhängigen Trägervereins.
Und der ist überzeugt von Masha Gessen, sagt Vorstandsmitglied Eva Senghaas-Knobloch: "Hannah Arendt steht in einer Tradition, etwas zu analysieren und verstehbar zu machen. Und zwar für eine möglichst breite, politisch interessierte Öffentlichkeit. Dass man auch Dinge ausspricht, die sehr unüblich sind, sie auszusprechen und möglicherweise Tabus zu brechen.“ Und genau das tue Gessen.
Sie tut dies, in einer Weise, dies weiter zu erklären und sich mit einem Streitgespräch zu begeben und dort sich mit Gegenargumenten auseinanderzusetzen.
Preisträgerin Masha Gessen
20-minütiger Vortrag von Gessen
Der israel-kritische Essay ist auch Kern der Rede zur Preisvergabe. Gessen sagt, ihre schon vor Wochen vorbereitete Rede habe sie kurzfristig gestrichen, um noch einmal auf ihren Holocaust-Vergleich einzugehen. Das tut sie in einem knapp 20-minütigen Vortrag. Kernaussage: Ein Vergleich sei noch längst keine Gleichstellung. Die Lage in Gaza mit dem in den jüdischen Ghettos unter der Naziherrschaft zu vergleichen, heiße nicht, dass es das gleiche sei. "Ich glaube, es ist unsere moralische Pflicht, den Holocaust mit den jetzigen Geschehnissen zu vergleichen. Und wir tun das im Namen von 'Nie wieder'", so Gessen.
Wir machen das, weil wir sehen, dass gewisse Aspekte des Totalitarismus, der Nazi-Ideologie, von faschistischer Politik sich in der jetzigen Zeit wiederholen. Und weil wir das Wissen der Geschehnisse des 20. Jahrhundert haben, haben wir die Möglichkeit, das schlimmste zu verhindern.
Preisträgerin Masha Gessen
Dem Publikum scheint sich Gessen Argumentation weitgehend zu erschließen: In der anschließenden Debatte bleibt es ruhig, Zwischenfälle bleiben aus.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 16. Dezember 2023, 19:30 Uhr