Infografik
Lerndefizite: Ist ein Pflicht-Vorschuljahr in Bremen die Lösung?
Heute findet in Bremen ein Kita-Gipfel statt. Ansätze für eine gute frühkindliche Bildung werden diskutiert. Könnte eine Vorschulpflicht nützlich sein?
Immer wieder bescheinigen Schulstudien Bremer Schülern und Schülerinnen Lerndefizite: Laut der jüngsten Vera-Vergleichsstudie erfüllt jeder zweite Drittklässler nicht die Mindeststandards in Mathematik, beim Lesen haben 42 Prozent der Grundschulkinder große Probleme. Beim IQB-Bildungstrend ist Bremen beim Lesen Schlusslicht, 31 Prozent der Kinder verfehlen demnach den Mindeststandard. Auch beim Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) belegt das kleinste Bundesland im Allgemeinranking den letzten Platz.
Ranking des INSM-Bildungsmonitors 2022
Auf der Suche nach Lösungen wird immer wieder das Beispiel Hamburg angeführt: Der Stadtstaat hatte mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, in den vergangenen Jahren ist es ihm jedoch gelungen, die Ergebnisse seiner Schulkinder zu verbessern.
Dies soll unter anderem am verpflichtenden Vorschuljahr für Kinder mit Sprachdefiziten liegen. "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen, die Hamburg umgesetzt hat", erläutert der Sprecher der dortigen Schulbehörde Peter Albrecht, allerdings hätte die jüngste IQB-Studie gezeigt, dass die vorschulische Bildung inklusive Sprachförderung sowie die regelmäßigen Lernstandserhebungen wichtige Grundlagen für die positive Entwicklung gewesen seien.
Die Vorschulklassen haben einen hohen Stellenwert, weil sie die Anschlussfähigkeit der Kinder für die Klasse 1 sicherstellen.
Peter Albrecht, Sprecher der Hamburger Schulbehörde
In Hamburg müssen sich alle Kinder mit viereinhalb Jahren an ihrer künftigen Grundschule vorstellen. Werden vom Fachpersonal wichtige sprachliche Defizite erkannt, muss das Kind ein Jahr vor der Einschulung eine Vorschulklasse besuchen. Das 56-seitige Bildungsprogramm ist umfassend gestaltet: von Sprache bis Mathematik, von Kreativitätsförderung bis zur interkulturellen Bildung. Im Mittelpunkt stehen jedoch Sprache und Mathematik. Erstere sei eine zentrale Voraussetzung für den Erwerb von Wissen, Letztere ebenfalls im täglichen Leben von Bedeutung.
Bremen setzt lieber auf Kita-Brückenjahr
In Bremen sträubt man sich jedoch gegen die Idee einer verpflichtenden Vorschulklasse und setzt lieber auf das sogenannte Kita-Brückenjahr. "Schon 2015 hat sich Bremen gegen die Einrichtung von Vorschulklassen entschieden, unter anderem, weil diese dem Gedanken des inklusiven Schulsystems widersprechen", führt die Sprecherin des Bildungsressorts, Maike Wiedwald, aus.
Man wolle verhindern, dass die Kinder aus ihrer "gewohnten Lernumgebung in der Kitagruppe herausgelöst werden", um eine neue Gruppe in der Vorklasse zu bilden, die dann ein Jahr später erneut aufgelöst werden muss. Dies riskiere, zu einer Stigmatisierung von Kindern mit Sprachförderbedarf zu führen und durchbreche das Prinzip der durchgängigen Förderung.
Der Besuch einer Vorschulklasse würde einen zusätzlichen Bruch in der kindlichen Bildungsbiografie bedeuten.
Maike Wiedwald, Sprecherin der Bremer Bildungssenatorin
Im vergangenen Jahr hat Bremen ein verpflichtendes Kita-Brückenjahr für Kinder mit Sprachförderbedarf beschlossen, die noch keine Kindertagesstätte besuchen. Damit erhalten sie ein Jahr vor Einschulung automatisch einen Platz in einer Kita.
Ziel ist es, die Kinder möglichst früh in die Kita zu bekommen, spätestens jedoch im Jahr vor der Einschulung.
Maike Wiedwald, Sprecherin der Bremer Bildungssenatorin
GEW sieht ebenfalls mehrere Probleme
Ebenfalls kritisch gegenüber Pflicht-Vorklassen äußert sich die Landesvorstandssprecherin der Bremer Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Barbara Schüll. Kinder lernten vor allem durch Vorbilder. Haben alle Kinder in einer Klasse Lücken etwa in der Sprachkompetenz, gebe es wenig Sprachvorbilder, erläutert sie. Außerdem fehlte es gerade an Platz und Fachkräften, um ein solches Vorhaben umzusetzen.
Ein guter Ansatz wäre laut Schüll hingegen, dass alle angehenden Lehrer und Lehrerinnen im Studium das Fach Deutsch als Zweitsprache belegten. Die erworbenen Kenntnisse könnten sie dann in der Klasse verwenden.
Etwa die Hälfte der Kinder in Bremen braucht Sprachförderung
Gerade in sozialen Brennpunkten, in denen finanzielle Armut auf mangelhafte Deutschkenntnisse in der Familie trifft, ist das Risiko hoch, dass die Kinder mit Sprachdefiziten in die Schule kommen. Etwa jedes zweite Kind im Vorschulalter hat in Bremen mit Sprachproblemen zu kämpfen. 46 Prozent aller Vorschulkinder in Bremen und 54,2 Prozent in Bremerhaven brauchten 2021 laut Bildungsressort eine Sprachförderung.
Die Not ist einfach groß.
Barbara Schüll, GEW-Landesvorstandssprecherin
Forscherin: Je früher man anfängt, desto besser
Als sicher gilt: Sprachdefizite können den Lernerfolg negativ beeinflussen oder gar verhindern. Etwa, wenn Kinder dem Unterricht nicht folgen können. Das bestätigt Birgit Mathes, Psychologin und Forscherin an der Universität Bremen. Um das Problem zu lösen, müsse man jedoch früh ansetzen.
Stichwort: frühkindliche Bildung. Dabei komme ein Vorschuljahr fast ein bisschen zu spät. "Je früher die Förderung beginnt, je durchgängiger sie ist und je besser sie Kita, Familie und bei Bedarf zusätzliche Förderprogramme zusammenbringt, umso besser", sagt Mathes. Passiert sie im letzten Jahr vor der Einschulung, ob in Kita oder Vorklasse, sei dies besser als gar nicht. Trotzdem könne es sein, dass sie nicht weit genug geht, um einen reibungslosen Schulbesuch zu ermöglichen.
So früh, so kontinuierlich, so umfassend wie möglich.
Birgit Mathes, Professorin Universität Bremen
Mathes arbeitet am Projekt Brise, der Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung. Der Fokus liege auf einer "präventiven" Arbeit. Nach dem Motto: Nicht warten, bis die Kinder Sprachdefizite aufweisen, sondern versuchen, dass es gar nicht erst dazu kommt. Das Kita-Personal könne beispielsweise Schwierigkeiten erkennen, an denen man schon früh arbeiten könnte. Dafür braucht man allerdings gute Betreuungsschlüssel und Ausstattung, so Mathes.
Was Kitas brauchen, ist die Möglichkeit, genügend gut ausgebildetes Personal anzustellen, damit man intensiv, nicht mit zu vielen Kindern auf einmal und auch mit den Eltern gut zusammenarbeiten kann.
Birgit Mathes, Professorin Universität Bremen
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 16. Februar 2023, 19:30 Uhr