Werders Gerassimenko vor Olympia: "Danke Papa, dass du so hart warst"
Schon als Kind wagte sich Kirill Gerassimenko allein in die Welt hinaus, um Tischtennis-Profi zu werden. Der Weg war nicht leicht, doch jetzt hat er ihn nach Paris geführt.
Der Koffer von Kirill Gerassimenko ist schon wieder gepackt. Das kennt der mittlerweile 27 Jahre alte Kasache gar nicht anders. Heute hier, morgen da, so ist das Nomadenleben eines Tischtennis-Profis eben. Und Gerassimenko liebt dieses Leben eigentlich, schon seit seinem 12. Lebensjahr ist er ein echter Weltenbummler.
Ich wollte schon immer gerne alleine weg, etwas anderes sehen und Tischtennis spielen. Für meine Mutter war das schon ein bisschen hart.
Werders Tischtennis-Profi Kirill Gerassimenko bei buten un binnen
Kasachstan, China, Österreich, Deutschland – hier hatte er schon überall gelebt und trainiert, bevor er 21 Jahre alt wurde. Bei Bundesligist Werder Bremen ist Gerassimenko seit fünf Jahren heimisch geworden, das Leben auf der Profi-Tour führt ihn aber weiterhin quer durch alle Kontinente. Und manchmal wird ihm dieser dauernde Reisestress etwas zu viel.
"Froh und stolz, dass ich dabei bin"
Doch die Reisestrapazen der kommenden drei Wochen nimmt Gerassimenko sehr gerne in Kauf – denn es geht nach Paris zu den Olympischen Spielen. "Ich bin sehr froh und stolz, dass ich dabei bin", freut sich der Mann mit Platz 43 auf der Weltrangliste im Gespräch mit buten un binnen, "ich habe in den vergangenen Monaten sehr viel Selbstvertrauen getankt – hoffentlich kann ich weiter kommen als in Tokio. Da habe ich leider gegen Timo Boll verloren."
Rio, Tokio und nun Paris. Es werden Gerassimenkos dritte Spiele und dieses Mal könnte tatsächlich etwas gehen. In Rio de Janeiro war er erst 19 Jahre alt, aufgeregt, überwältigt, "da war alles ringsrum zu viel", erinnert er sich. Tokio wurde nach Corona vor einer Geisterkulisse gespielt, nicht einfach. Und Tischtennis-Legende Boll ist eben nicht irgendein Gegner in der 3. Runde eines olympischen Turniers.
Gerassimenko, der deutsche Angstgegner
Seit der Team-Weltmeisterschaft im vergangenen Frühjahr ist Gerassimenko aber zu einer Art Angstgegner der deutschen Topspieler geworden: Dimitri Ovtcharov, Dang Qiu, Patrick Franziska – sie alle putzte der 1,74 Meter große Kasache inzwischen weg. Auch dank seines Kampfgeistes unterlag Werder im Mai erst im Play-off-Halbfinale der Bundesliga. "Ich traue mir jetzt viel mehr zu und glaube an mich", sagt Gerassimenko, "es lief zuletzt richtig gut." Vielleicht besser, als je zuvor.
Ein Zufall ist das nicht. Hinter Gerassimenkos erfolgreichem Weg nach Paris stecken harte Arbeit, Entbehrungen und purer Wille – und das von Kindesbeinen an. In Astana, im Norden Kasachstans, wo die Sommer heiß und die Winter bis zu minus 50 Grad kalt sind, fing alles an. Durch seinen Vater kam er zum Tischtennis, der stand in den Top Ten Kasachstans, war zudem ein sportliches Multitalent und betrieb bis zu acht Sportarten gleichzeitig.
Sportbegeisterter Vater bringt ihn zum Tischtennis
"Mein Vater hat früh sehr viele Sportarten mit mir ausprobiert, um mir zu zeigen, wie viel Kraft man braucht, um als Profi etwas zu erreichen", erzählt Gerassimenko. Eishockey, Skifahren und Biathlon waren dabei. Doch Tischtennis wurde es.
Jeden Morgen um 5 Uhr aufstehen, Training vor der Schule, nach der Schule wieder, oft bis in den Abend hinein. Und schnell bekamen die Hobbyspieler in der Trainingshalle mit, wie gut dieser kleine Kirill an der Platte war und spielten um kleines Geld gegen ihn. Ohne große Chance.
Als ich so neun oder zehn Jahre alt war, hatte ich so viel Geld zusammen, dass ich mir einen Laptop gekauft habe.
Werders Tischtennis-Profi Kirill Gerassimenko bei buten un binnen
Doch diese Glücksspielchen dauerten oft so lange, dass alle weg waren und er acht Kilometer nach Hause laufen musste. "Egal, bei welchem Wetter. Auch bei minus 35 Grad. Manchmal hat mich der Spieler im Auto mitgenommen, der gegen mich verloren hatte", erzählt Gerassimenko. Abgehärtet wurde er schnell, auch von seinem Vater. Der trainierte ihn mit Strenge, doch dass es noch viel härter geht, lernte Gerassimenko im Alter von zwölf, als er für zwei Jahre mit seinem älteren Bruder in ein chinesisches Sportinternat zog.
Mit 12 Jahren in China gedrillt – auch mit Schlägen
"Es ging um 5 Uhr los, drei Mal täglich Training und wer zu spät kam, bekam Schläge mit einem Stock", sagt Gerassimenko. Die chinesische Trainingsphilosophie bestand aus hunderten von monotonen Wiederholungen, um die Technik zu schärfen. Vorhand, Rückhand, wieder und wieder im gleichen Rhythmus. "Da wusste man schon morgens, wie das Training aussieht. Aber in China habe ich echte Disziplin gelernt", erzählt Gerassimenko.
Ich kann mich bei meinem Papa nur bedanken, dass er so hart mit mir war.
Werders Tischtennis-Profi Kirill Gerassimenko bei buten un binnen
Nach dem Drill in Asien zog es Gerassimenko in die Werner-Schlager-Academy in Wien. Das erste Mal in Europa, alleine, mit 15 Jahren. Dort wurde er auf andere Art ausgebildet, schaffte 2017 sein Debüt in der österreichischen Bundesliga. "Dort hat man mehr auf meine Stärken geschaut und wie man sie fördern kann", sagt Gerassimenko, "in Europa habe ich eine ganz andere Mentalität kennengelernt." Über Grenzau kam er 2019 schließlich in seiner neuen Heimat Bremen bei Werder an.
Nur Gerassimenko von Werder qualifiziert
Dass seine beiden Werder-Teamkollegen Mattias Falck und Marcelo Aguirre in Paris nicht dabei sein werden, schmerzt Gerassimenko. Doch umso mehr will er die Grün-Weißen im olympischen Turnier gut vertreten. Es geht nun direkt für jeweils zehn Tage nach Portugal und Saarbrücken ins Trainingslager, beste Vorbereitung also mit Spielern anderer Nationen. Der Koffer ist gepackt, die Vorfreude da.
Gerassimenko ist Einzelkämpfer in Paris, kein anderer Kasache hatte sich im Tischtennis qualifiziert. Dass sein Vater wieder als Trainer an seiner Seite ist, hilft. Auch der feste Glaube, dass alles möglich ist. Werders Weltenbummler macht Halt in Paris. Es ist sicher nur ein Zwischenstopp.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen mit Sportblitz, 30. Juni 2024, 19:30 Uhr