Interview

Therapeut über vererbte Traumata: "Für das Leid gab es keine Wörter"

Aufarbeitung einer Familiengeschichte: Doku "Liebe Angst" im City 46

Bild: dpa | Ariel Schalit

Ein Bremer Film zeigt die Folgen von sogenannten vererbten Traumata bei Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen. Ein Therapeut erklärt, wie so etwas zustande kommt.

Traumata können das Leben ganzer Generationen beeinflussen. Traumatische Erfahrungen, über die Betroffene nicht reden wollen oder können, doch deren Folgen sie in ihrem Alltag spüren. Und nicht nur sie: Auch ihre Nachfahren müssen mit den Problemen ihrer Eltern klarkommen. In der Psychologie spricht man deswegen von "vererbten Traumata".

Besonders deutlich wird dies in einem neuen Bremer Dokumentarfilm, der das Leben einer Familie von Holocaust-Überlebenden porträtiert. Therapeut Gert Levy erklärt im Interview mit buten un binnen, wie so etwas zustande kommt und wie sich Betroffene Hilfe holen können.

Herr Levy, wie entstehen vererbte Traumata?

Ich mag eigentlich das Wort vererbt nicht, lieber übertragen. Ein Beispiel: Irgendwann habe ich mal meinen Personalausweis im Fotokopierer liegen lassen, in meiner eigenen Praxis, und habe dann richtig Schweißausbrüche und Angstzustände bekommen. Ich habe lange nicht verstanden, wieso das so massiv war, bis ich mit meinem Vater darüber geredet habe. Er erzählte mir, er hätte gefälschte Papiere damals beim Widerstand in Südfrankreich gehabt und es wäre sein schlimmster Horror gewesen, sie zu verlieren.

Aber wie funktioniert das ganz konkret? Übernimmt man zum Beispiel solche Ängste in Bezug auf diese spezifischen Situationen, weil man Erzählungen darüber in der Familie gehört hat?

Ja, klar. Mein Vater hatte mit mir darüber gesprochen, aber es läuft auch non-verbal. Gerade bei Kindern und Enkelkindern der Überlebenden. Es sind sogenannte systemische Übertragungen, das sind Körperbewegungen, Augenbewegungen, Gesichtsveränderungen. Wenn wir Angst haben, verändert sich unser Gesicht, wir verkrampfen uns. Unsere Schulterhaltung. Das lernen Kinder von Holocaust-Überlebenden sehr früh und sehr schnell. Das, was die zweite Generation ausmacht, ist eigentlich das große Schweigen der ersten Generation.

Wie meinen Sie das?

Die erste Generation hat ganz wenig darüber erzählt, was mit ihnen passiert ist und was sie dann gemacht haben, um zu überleben. Das große Schweigen zeichnet genau die Überlebenden des Holocausts aus. Nicht darüber reden zu können. Oder zu wollen.

Und durch Körpersignale werden die Kinder also traumatisiert?

Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sie traumatisiert werden. Sondern: Die Kinder und Enkelkinder werden beeinflusst. Die Eltern und die Großeltern, die sind traumatisiert.

Aber die Folgen können für die Nachkommen ebenso gravierend sein, oder? Die Protagonistin im Film findet keinen Halt, hat Schwierigkeiten mit menschlichen Beziehungen und entwickelt Angstneurosen.

Ja, klar. Die zweite und auch die dritte Generation sind ständig auf der Flucht, sowohl emotional als auch geografisch. Ich denke auch gerade an einen Enkel, der unter einem massiven Waschzwang litt. Seine Großeltern sowie der Vater waren in KZs. Wer im KZ dreckig wurde, der war des Todes geweiht. Und so kann sich das übertragen als ein Waschzwang.

Liegen die Ursachen für so etwas dann in der mangelhaften Aufarbeitung in der ersten Generation? Im "großen Schweigen"?

Es liegt im Schweigen der ersten Generation und natürlich in der damaligen Unmöglichkeit, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen als KZ-Überlebender. Der Kampf hat 1945 ja nicht aufgehört. Der Kampf ging immer weiter. Das war die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen. Denn sie mussten um Anerkennung ringen. Sie mussten um ihre Zukunft ringen.
In den seltensten Fällen sind sie zu Geld und Sicherheit gekommen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Meinem Vater ist die deutsche Staatsbürgerschaft durch die Nazis aberkannt worden. Er musste von 1945 bis 1948 kämpfen, damit er wieder seine deutsche Staatsbürgerschaft erhalten konnte. Der Richter, der darüber entschied, war in der SS gewesen.

Die Protagonistin hat im Interview gesagt, ihr fehlte anfangs die Sprache, um die Probleme richtig zu benennen. Gibt es heute genug Wissen und Begriffe, um solche Traumata zu therapieren?

Es gibt enorme Kommunikationsprobleme. Denn für dieses Leid gibt es eigentlich keine Wörter. Für dieses Leid, das die Eltern und Großeltern ertragen haben, gibt es keine Wörter. Es wird nicht nur geschwiegen, sondern auch keine Worte gefunden.
Ich konnte zum Beispiel meine Eltern nur schwer befragen, was damals los gewesen ist. Sehr häufig habe ich meinen Vater gefragt: 'Wie ist denn so ein Tag im Lager abgelaufen?', aber das konnte er mir nicht sagen. Später, in einem Interview, hat er das erzählt. Fremden ja, aber mir, dem Sohn, nicht. Er wollte mich damit wahrscheinlich schützen, aber auch keine Schwächen zeigen. Oder er wollte nicht sagen, wie brutal die Überlebenden sein mussten, um zu überleben.

Wie kann man dann solche vererbten Traumata heilen?

Heilen gibt es nicht, nein. Wir können aber lernen, damit umzugehen. Diese Auswirkungen auszunutzen und ins Positive zu wenden. Denn es gibt auch unheimlich viel Positives. Die Sensibilität, die Berufswahl. Viele meiner Klienten und Klientinnen sind in den sozialen oder medizinischen Bereich gegangen. Denn wir nehmen sehr viel deutlicher wahr, was in der Politik und der Gesellschaft läuft, wenn es um Ausgrenzung, Bestrafung und Ungerechtigkeit geht.

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Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Serena Bilanceri
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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 23. März 2023, 19:30 Uhr