Bremer Film zeigt Trauma einer Holocaust-Überlebenden – und die Folgen

Aufarbeitung einer Familiengeschichte: Doku "Liebe Angst" im City 46

Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Eine Holocaust-Überlebende kann ihr Trauma nicht aufarbeiten – sie gibt es an ihre Kinder weiter. Ungeschönt zeigt eine Bremer Filmproduktion die Folgen nie geheilter Wunden.

Eine Frau wacht morgens im Dämmerlicht in ihrem Bett auf. Sie kuschelt mit ihrem Hund, steht auf, fängt an zu putzen. Es gibt einiges, in das sie Ordnung bringen soll. Reihenweise Kisten, Kartons voller Zeitungen, Briefe, Papiere. Sie türmen sich auf in der Bremer Wohnung ihrer Mutter. Ein ganzes Leben. Das ihre und das einer Generation vor ihr. Ein Chaos, dessen Wurzeln in einer Zeit vor ihrer Zeit fest verankert sind.

Die Frau heißt Kim. Sie ist die Tochter einer Holocaust-Überlebenden. Kim hat den Holocaust nicht persönlich erlebt. Als sie geboren wurde, herrschte in Deutschland seit zwei Jahrzehnten Frieden. Und doch könnte man sagen, sie hat den Krieg gespürt. Auf ihrer Haut. In ihren Knochen. In den Augen ihrer Mutter. Und in der Angst ihrer Mutter.

Großmutter wurde von Nazis ermordet

Kims Mutter, Lore, ist erst sechs Jahre alt, als ihre eigene Mutter ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und dort ermordet wird. 80 Jahre später ist sie immer noch davon gezeichnet. Von der Angst, die sie damals als Kind erfahren hat, versteckt auf dem Dachboden. Von dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während ihre Mutter in der Gaskammer starb. Ein Trauma, das sie nicht aufarbeiten kann und an die nächste Generation weitergibt, wie ein unliebsames DNA-Teilchen.

Kim Seligsohn und Sandra Prechtel reden auf einer Bühne.
Kim Seligsohn (li.) und Sandra Prechtel (re.) haben den Film in Bremen vorgestellt. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Diese tiefe, existenzielle Angst, lässt sie nicht mehr los. Sie wird die stille Begleiterin eines ganzen Lebens. Einmal, so erzählt es Kim, läuft Lore in der Nacht im Kreis, schreit: "Ich sterbe, ich sterbe", während Kim und ihr Bruder sie anflehen, dies nicht zu tun. Im Film wirkt Lore nahezu hektisch; sie schreibt, liest und lacht mit ihrem grauen, zerzausten Haar. Früher war sie politisch engagiert, eine Kämpfernatur. Draußen stark, innen jedoch zerbrechlich. Geborgenheit kann sie ihren Kindern nicht vermitteln. Die braucht sie selbst.

Kinder tragen die Narben ihrer Vorfahren

Sandra Prechtel blickt in die Kamera.
Regisseurin Sandra Prechtel hat sich schon immer für die sogenannten Kriegsenkel und -enkelinnen interessiert. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Die Tochter Kim ist inzwischen Sängerin, eine große, blonde Frau mit selbstbewusstem Auftreten und entschlossenem Blick. Sie ist begabt, aber von der Vergangenheit geplagt. Auch von der Liebe ihrer Mutter, die mit Angst einhergeht. Es gibt kaum Verwandte, mit denen Kim eine Familie aufbauen kann. Keine richtige Identität, an der sie sich festhalten kann. Keine Wurzeln, sie wurden weggerissen. Als der Bruder sich das Leben nimmt, setzt Kim seine Tagebücher in Musik um. In den Büchern sind nur Wörter geschrieben, scheinbar voneinander losgelöst, gemeinsam ergeben sie aber einen Sinn. Die Fragmente eines Lebens.

Als die Mutter ins Pflegeheim muss, bringt Kim schließlich Ordnung in die Wohnung, in die Kisten voller Zeitungen, die Lore nahezu manisch archiviert hatte. In einer der letzten Szenen schickt Kim ihrer Mutter Küsse durch die Glasscheibe am Fenster des Pflegeheims. Eine Art Versöhnung – mit ihrer Mutter und vielleicht auch mit sich selbst.

Protagonistin: Dieser Film hat mich befreit

Es ist kein Einzelschicksal, das dieser Film beschreibt. Millionen Menschen haben die Folgen des Nationalsozialismus gespürt. Juden und Verfolgten wurden alle Rechte weggenommen, so die Autorinnen, letztendlich auch das Recht aufs Leben. "Wir leben in dem Land der Menschen, die das zu verantworten haben", sagt Kim Seligsohn. Sie ist gleichzeitig die Protagonistin und Ko-Autorin der Dokumentation.

Kim Seligsohn und Sandra Prechtel stehen vor dem Plakat von "Liebe Angst".
Für Kim Seligsohn (li.) und Sandra Prechtel (re.) war der Film ein Prozess, der sich mit der Zeit weiterentwickelt hat. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Über den Film sagt sie, er habe sehr viel bewirkt. Dass sie Schamgefühle und Minderwertigkeitskomplexe überwinden konnte, die tief verankert waren. Diese Gefühle hätten grundsätzlich der Nazi-Ideologie entsprochen, quasi deren Ideologie verwirklicht. Jetzt habe ihr der Film Freiheit geschenkt, von der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, vor der sie lange auf der Flucht war.

Denn ständig auf der Flucht zu sein kostet Energie und Kraft. Und irgendwann komme ein Augenblick, in dem man nicht mehr rennen kann.

Da konnte ich mich umdrehen und ganz langsam einen Blick in den Schatten der Geschichte werfen. Dieser Schatten ist etwas, was in dem Film Licht bekommen hat.

Kim Seligsohn steht vor einem Spiegel.
Kim Seligsohn, Protagonistin und Ko-Autorin

Die Sprache fehlte

Eine Zeit lang, so erzählt es Seligsohn, war sie in Therapie. Doch auch das konnte nur bedingt helfen, denn um die Probleme richtig zu benennen, fehlte ihr die Sprache. "Es gibt das Verleugnen, das Nicht-Darüber-Reden auf der Seite der Täter, und es gibt das Sprachlossein auf der Seite der Opfer", sagt sie.

Meine Mutter konnte nicht reden. Und ich hatte gar keine Sprache, weil ich gar nicht wusste, was Sache ist.

Kim Seligsohn steht vor einem Spiegel.
Kim Seligsohn, Protagonistin und Ko-Autorin

Es habe keine Therapeuten für Millionen von Menschen nach dem Krieg gegeben, merkt sie an. Die Monster, die Ängste aus der Vergangenheit, so könnte man sagen, sind im Schrank versteckt worden, jedoch nie ganz weggegangen.

Regisseurin: Ich kenne die andere Seite

Sandra Prechtel, die Regisseurin, kennt hingegen die andere Seite, das Schweigen in den Familien, in denen es Menschen gab, die in den Nationalsozialismus involviert waren. Auch für sie ist der Film eine Art Aufarbeitung.

In meiner Familie gibt es so viele Verstrickungen in den Nationalsozialismus, dass ich heute zum ersten Mal gedacht habe: Es hat ganz viel damit zu tun, dass ich da was vielleicht so wieder gut mache.

Sandra Prechtel lacht.
Sandra Prechtel, Regisseurin

Generationen, die zur Zeit des Holocausts kaum geboren waren, und doch die Folgen der Schuld ihrer Vorfahren in sich tragen. Ohne eine Sprache zu kennen, in der sie Gestalt annehmen könnten.

Ich bin selbst so sehr auch eine Kriegsenkelin wie Kim, bloß von der anderen Seite.

Sandra Prechtel lacht.
Sandra Prechtel, Regisseurin

Lore ist inzwischen gestorben. Davor, erzählt Seligsohn, schien sie dank eines neuen Therapieansatzes Frieden gefunden zu haben. Seligsohn selbst hat einen Weg aus dem Leid und zu sich selbst gefunden. Sie sagt, sie werde immer die Enkelin ihrer ermordeten Großmutter sein. Aber eben nicht nur das. "Nicht nur die Tochter meiner Mutter."

So gedenkt Bremen der Opfer des Nationalsozialismus

Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 22. März 2023, 19:30 Uhr