Ertrunken im Steller See: "Vielleicht wäre er noch hier"
Vor sechs Jahren ertrank Raymond aus Delmenhorst. Seine Familie fragt sich bis heute, wie das passieren konnte – und hofft, dass mehr Menschen gerettet werden können.
Jeden Morgen zündet Ute H. die Kerze im Flur ihres kleinen Hauses in Delmenhorst für ihren Sohn Raymond an. Es war der 27. Mai 2018, der ihr Leben für immer verändert hat. Der Tag, an dem ihr Sohn ertrunken ist.
26 Grad waren es an dem Tag. Viel Sonne, wenig Wolken, kein Regen. Perfektes Wetter für einen Tag am See. Raymond, damals 16, ist mit ein paar Freunden zum Steller See gefahren. "Gegen vier sind die Jungs von uns aus Richtung Steller See aufgebrochen. Das war eine Gruppe von fünf, sechs Jungs", sagt seine Schwester Rachel.
Was dann da passiert ist, wissen wir natürlich nur aus Erzählungen.
Raymonds Schwester Rachel
Und die gehen so: Raymond und seine Freunde wollten wohl gemeinsam zur Badeinsel in der Mitte des Sees schwimmen. Die Plattform ist fest installiert, je nachdem von wo aus man schwimmt, ist sie 80 bis 120 Meter vom Ufer entfernt. Das sind ungefähr vier Bahnen im Hallenbad. "Und auf halbem Wege hat er dann wohl zu seinen Freunden gesagt: Jungs, ich dreh' um. Ich hab' Shisha-Lunge", erzählt Rachel weiter, "dann ist er umgedreht, wollte zurück zum Ufer und ist da leider nie angekommen."
Seinen Freunden ist das erst später aufgefallen. Als sie von der Badinsel zurückkamen, fehlte Raymond. Zuerst dachten sie, er hätte vielleicht einfach jemanden getroffen. "Als er dann ungefähr eine Stunde später immer noch nicht wieder da war und sie gesehen haben, dass sein Handy und seine Uhr – seine beiden Heiligtümer – noch am Platz waren, haben sie sich Gedanken gemacht. Und dann haben sie die DLRG gerufen", sagt Rachel.
Die DLRG hat direkt am Ufer des Steller See einen Wachturm. Auch an dem Nachmittag waren freiwillige Rettungsschwimmer vor Ort. Jon Ian Güntner ist regelmäßig für die DLRG an dem See. An dem Tag war er gerade auf dem Weg in den Urlaub. Seine Kollegen wollten eigentlich gerade einpacken, als die Jungs auf sie zu kamen, erzählt er.
Taucher fanden Raymond leblos im Wasser
"Daraufhin sind unsere Rettungsschwimmer gleich aufs Wasser und haben die Ränder abgesucht. Gleichzeitig wurde die Feuerwehr von uns alarmiert." Die Taucher der Berufsfeuerwehr fanden Raymond kurz darauf leblos im Wasser.
Ich frage mich jeden Tag: 'Warum ist das passiert?'
Raymonds Mutter Ute H.
Raymonds Mutter Ute H. glaubt nicht, dass es den einen Grund für den Tod ihres Sohnes gibt, sondern lauter Zufälle, die zusammengetroffen sind an diesem Tag. "Er hat halt gerne Energy getrunken. Er hatte ein bisschen Asthma. Und es war sehr heiß an dem Tag, das Wasser war aber noch sehr kalt. Wir glauben, dass das alles eine Rolle spielt", sagt sie.
Eins ist ihr aber besonders wichtig: Schwimmen konnte ihr Sohn. Er sei nicht der weltbeste Schwimmer gewesen, aber habe schon mit drei Jahren Schwimmkurse in Huchting gemacht und sei regelmäßig im Pool im Garten gewesen. Den Pool gibt es immer noch. Nur Ute geht nicht mehr rein.
Früher war sie eine echte Wasserratte, sagt sie. "Das ist auch nicht mehr. Man kann das nicht ausblenden." Rachels Bezug zu Wasser hat sich ebenfalls verändert. An den See gehen beide nicht mehr.
Auch Rettungsschwimmer Güntner hat keine klare Erklärung für Raymonds Tod. Auch er spricht von einer Verkettung unglücklicher Umstände, von Eigenverantwortung und davon, aufeinander aufzupassen. Bei zwei- bis zweieinhalbtausend Badegästen am Steller See könne die DLRG nicht immer alles im Blick haben. Deshalb sei es wichtig, nie alleine schwimmen zu gehen und auch niemanden alleine zurück schwimmen zu lassen.
Im Zweifel einmal zu viel Hilfe holen
Wenn man sich mal nicht sicher ist, ob jemand im Wasser Hilfe braucht: Im Zweifel solle man der DLRG lieber einmal zu viel Bescheid sagen, sagt Güntner: "Wir fahren lieber zu jemanden hin, dem es noch gut geht, als zu jemanden nicht hinzufahren, weil andere der Meinung sind: Da ist noch alles in Ordnung." Auch Raymonds Mutter wünscht sich, "dass man vielleicht ein bisschen mehr auch auf andere achtet".
Der See war an diesem Tag so voll und eigentlich kann man gar nicht verstehen, dass dann so etwas passiert. Und vielleicht wäre er noch hier, wenn irgendjemand nach ihm geguckt hätte.
Raymonds Mutter Ute H.
Ihre Tochter Rachel glaubt, dass ihr Bruder vielleicht noch leben würde, wäre er nicht zu stolz gewesen, um Hilfe zu bitten. Sie appelliert gerade an Jugendliche, "dass es vollkommen okay ist, zu sagen: 'Ich brauche Hilfe. Kann bitte jemand mitkommen?'
Ertrinken ist ein stiller Tod. "Leider ist es nicht so, dass jemand, der ertrinkt, um Hilfe ruft, sondern die gehen einfach so unter", sagt Raymonds Mutter und stockt. Dann sagt sie, warum sie so offen über den Tod ihres Sohnes redet. Sie hofft, dass so "vielleicht zwei oder drei andere Kinder gerettet werden können".
Dieses Thema im Programm: Bremen Next 30. Juli 2024, 15:40 Uhr