Besuch in Kiew: "Muss ich mein Leben aufschieben bis der Krieg endet?"
Journalistin Anna Chaika ist in ihre Heimatstadt Kiew gereist. Für ihre Seele ist der Unterschied zwischen dem Leben im Krieg und im Frieden in Bremen schwer verkraftbar.
Jeden Morgen fällt mir in Kiew das Aufwachen schwer. Ich bekomme kaum genug Schlaf. Ich glaube, am sechsten Tag meiner Reise überkommt mich eine Art emotionale Melancholie.
Viele aus meinen Freundeskreis haben Kiew verlassen, sodass ich sie nicht mehr sehen kann. Wir haben uns in diesem Jahr sehr von einander entfernt – jeder hat seine eigene Realität des Krieges, seine eigenen Erfahrungen: Einige sind direkt ins Ausland geflüchtet, andere waren die ganze Zeit in der Ukraine, einige haben ihre Arbeit verloren, andere ihren Vater oder ihren Ehemann. Deshalb ist es manchmal schwierig, sich mitzuteilen und die richtigen Worte zu wählen, um niemanden zu verletzen.
Leben zwischen "Krieg" und "Nicht-Krieg"
Den ganzen Vormittag habe ich über mein Leben in Deutschland und in der Ukraine nachgedacht. Ich weiß nicht, wie und wo ich letztlich leben will, wie ich alle Rechnungen bezahlen soll und wie ich eine neue Sprache lernen soll. Ich weiß nicht, wie ich normal weiterleben kann – ohne das Leben bis nach dem Ende des Krieges aufzuschieben. In einer solchen Zwitterform zwischen "Krieg" und "Nicht-Krieg" weigert sich die Psyche zu existieren.
Um mich aufzumuntern, beschließe ich, in das Fitnessstudio in der Nähe meines Hauses zu gehen. Das Training findet im Keller statt, sodass man keine Angst vor Sirenen oder Raketenangriffen haben muss.
Das Einkaufszentrum als Antrieb
Nach dem Training entscheide ich mich, einen Spaziergang zum Einkaufszentrum zu machen. Das ist dasselbe Einkaufszentrum, das zu Beginn des Krieges, im März 2022, von russischen Raketen getroffen wurde. Damals starben dort acht Menschen.
Heute ist das Einkaufszentrum bereits wieder aufgebaut und geöffnet. Hier kann man Lebensmittel und Kleidung kaufen und sogar ins Kino gehen. Dieses Einkaufszentrum ist wahrscheinlich das beste Beispiel und die beste Motivation dafür, dass trotz der Tragödie und der Zerstörung das Leben weitergeht.
Dieses Thema im Programm: Bremen Next, Next am Nachmittag, 29. März 2023, 17:40 Uhr