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Die Drift durchs Eis: Wie Forscher Schollen fanden und lieben lernten
Wie man eine Scholle findet und erschließt und warum Eis-Deformation "wunderschön" sein kann: Drei Forscher erzählen vom Treiben im arktischen Niemandsland.
Das Sich-treiben-lassen trägt die Expedition schon im Namen: "Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate" heißt "Mosaic" voll ausgeschrieben. 330 Tage hing die "Polarstern", ein 120-Meter-Koloss, an zwei Eisschollen fest und bewegte sich mit.
"Irgendwann hatten wir die perfekte Scholle"
Dass man sich mit einer Eisscholle treiben lässt, ist nicht neu – das gab es schon zu Fridtjof Nansens Zeiten um die vorletzte Jahrundertwende. Doch die Vorgehensweise ist anders, schon bei der Suche einer passenden Scholle: "Heute sucht man nicht mehr mit den Augen, sondern wir hatten Satellitenbilder. Dann hatten wir einige Kandidaten, die wir der Reihe nach abgesucht haben – und irgendwann hatten wir dann die perfekte Scholle", sagt Stefan Hendricks, Meereis-Physiker beim Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI).
Er war selbst dabei, als sie die Scholle zum ersten Mal besucht haben. "Wir haben sie uns dann genauer angesehen, sie sollte ja auch für eine längere Zeit halten und arbeitstauglich sein", so Hendricks. "Der Zeitpunkt, bei dem wir uns für eine Scholle entschieden hatten, war dann auch der Moment, wo wir alle loslegen wollten." Die Wahl sei nicht auf die allerdickste, allersicherste Scholle gefallen, denn "wir wollten tatsächlich auch das jüngere Eis beproben." Die ausgesuchte Scholle sei ein guter Mix gewesen aus alt und neu:
Wir hatten einen kleinen Teil der Scholle, der war recht stabil, darauf haben wir dann hauptsächlich gearbeitet, wir konnten dann aber auch auf das dünnere Eis.
Stefan Hendricks
Schollenvermessung ganz ohne Tageslicht
Mit dieser ersten, etwa 2,5 mal 3,5 Kilometer großen Scholle war die "Polarstern" dann 300 Tage unterwegs. Dabei war auch Christian Katlein, auch er ist Meereis-Physiker. Die Scholle war sein Arbeitsplatz, er erzählt, wie die Forschenden sie sich erschlossen haben – und zwar im Dunklen: "Wir haben uns mit diversen Methoden, also mit Laser-Scannern, mit Infrarot-Kameras, die Gegend erarbeitet. Dann hat man das wie mit einer Wanderkarte auch: Man weiß, wo es langgeht, und dann weiß man eben, wo was ist – und dann ist es gar nicht notwendig, dass man Licht hat." Am Ende hatte Katlein sich so an die optischen Verhältnisse gewöhnt, dass es ihn fast störte, als das Tageslicht wiederkam: "Meinetwegen hätte das Licht ruhig wieder ausgehen können."
Während der langen Drift veränderte sich die Scholle immer wieder, sie überraschte die Forscher mit Rissen im Eis und neuen Eisrücken. AWI-Forscherin Stefanie Arndt leitete auf einem Fahrtabschnitt das Meereis-Team und schildert fast prosaisch die Freude ihrer Kollegen: "Sie haben gesehen, wie wunderschön die Scholle deformiert, wie sie sich wieder zusammenschiebt, in welchem Rhythmus das passiert. Das haben wir uns am Ende des Tages einfach zum Programm gemacht: die Veränderungen."
Die Scholle brach mit lautem Knallen
Im Juli dann das spektakuläre Ende: Unter lautem Knallen brach die Scholle in viele Einzelteile. Das war ein perfekter Zeitablauf: Gerade einen Tag vorher hatten die Forscher ihr Camp fertig abgebaut, sie hatten mit dem Bruch gerechnet. "Hier beendet sie nun ihren natürlichen Lebenszyklus, während sie unter dem Einfluss von Dünung und Wellen zerbricht, schließlich schmilzt und wieder zu dem Wasser des Ozeans wird", schrieb Expeditionsleiter Markus Rex damals. Auch er hatte zu der Scholle eine ganz besondere Beziehung aufgebaut.
In den vielen Monaten ist die Scholle für uns ein Zuhause geworden, das wir immer in Erinnerung behalten werden. Nun tritt sie ihren letzten Weg an. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, und für die letzte Phase der Expedition nach Norden aufzubrechen.
Markus Rex, Expeditionsleiter
Schon im August fanden die Forscher die nächste passende Scholle. Mit ihr trieben sie auf der "Polarstern" weiter. Diesmal nur für 30 Tage, denn dann ging die "Mosaic"-Expedition zuende.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 12. Oktober 2020, 19.30 Uhr