Bremer Forscher Klee zum Wahlkampf: Kein Politiker ohne Fehl und Tadel

Der Plenarsaal des Reichstagsgebäudes bei einer Sitzung des Deutschen Bundestages.
Am 26. September 2021 findet die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. (Symbolbild) Bild: dpa | Geisler-Fotopress

Das politische Gerangel hat begonnen. Das ist nicht neu. Der Bundestagswahlkampf läuft in der Pandemie trotzdem anders. Worauf es ankommt, erklärt Politikforscher Klee.

Bei dieser Bundestagswahl könnte vieles anders sein. Die Pandemie bestimmte bis vor Kurzem noch die Talkshows und den Alltag. Auch der Wahlkampf ist davon betroffen. Was uns in den kommenden Monaten bis zum 26. September erwarten könnte, erzählt der Bremer Politikforscher Andreas Klee im Gespräch mit buten un binnen.

Herr Klee, es wird jetzt Sommer, die Temperaturen steigen auch in der politischen Arena. Die Parteien befinden sich im Wahlkampf. Oder?

Naja, ganz so heiß wie die Temperaturen ist der Wahlkampf im Moment noch nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir relativ spät dran sind. Der Wahlkampf hätte mit Sicherheit viel, viel früher begonnen, hätten wie nicht so tief in der Pandemie festgesteckt. Ich finde, dass wir die großen politischen Auseinandersetzungen noch nicht sehen. Ich würde das noch gar nicht Wahlkampf nennen, sondern eher die Vorbereitung für den Wahlkampf.

Was erwarten Sie?

Ich glaube, dass jetzt bis Juli, August politisch alles ein bisschen ruhen wird. Weil es Sommerferien sind und die meisten Menschen das nicht mitkriegen würden. Man muss aber auch schauen, welche Möglichkeiten sich ergeben, was thematisch passiert. Frau Baerbock hat mit ihrem Lebenslauf ein bisschen was angeboten. Aber ich glaube, dass wir nach und nach erleben, wie sich die Kandidaten in Position bringen und immer mehr versuchen, die Konfliktlinien zu erarbeiten. Und dann erst Mitte August beginnen, das politisch auszuschlachten.

Sie haben Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock angesprochen. Sie soll ihren Lebenslauf aufgehübscht haben. Das hat für Aufregung gesorgt. Wie ordnen Sie das ein, wie groß war diese Sache aus Ihrer Sicht?

Ich will das auf gar keinen Fall kleinreden. Sie hat nicht unbedingt Unwahrheiten gesagt, aber ein bisschen überzogen. Das ist keine Kleinigkeit, so etwas gehört sich nicht. Wahrscheinlich ist es tatsächlich einfach eine Unaufmerksamkeit gewesen, aber sie hat auf eine harte Art und Weise lernen müssen, dass sie in ihrer neuen Rolle als Kanzlerkandidatin einer aussichtsreichen Partei besonders im Fokus steht. Aber ich glaube nicht, dass es ihr schaden wird in Bezug auf die Stimmen, die sie bekommen kann. Es ist jedoch eine Unaufmerksamkeit, die ihr nicht noch mal passieren sollte.

Sie denken also, dass sie sich davon erholen wird? Im Vorfeld hatte es auch Kritik wegen der nicht fristgerecht gemeldeten Nebeneinkünfte gegeben.

Ja, das wird sie. Wir merken auch, wie das medial aufbereitet wird. In diesem ganzen System wird es auch kaum ein Politiker oder eine Politikerin geben, die vollkommen ohne Fehler oder Tadel ist. Wir haben mit Herrn Lauterbach (Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD, Anm.d.Red.) und Nebeneinkünften plötzlich eine ähnliche Situation gehabt. Mit den Lebensläufen… alle, die sie anklagen, müssten sich im Klaren darüber sein, dass man sie als Nächste genau ansieht. Bei dem Kanzlerkandidaten der CDU, Armin Laschet, hat man relativ schnell Ähnliches gefunden. Er wird sich hüten, das in irgendwelcher Art und Weise zu thematisieren. Da gewinnt er nichts mit.

Der politische Diskurs wird gerade von Klimawandel und Nachhaltigkeit dominiert. Das ist traditionell ein klassisches "grünes" Thema. Was macht das mit den anderen Parteien?

Die Grünen sind die Umweltpartei, das war ihre Gründungsidee. Ich finde, dass das Thema "Klima und Nachhaltigkeit" kein Thema nur von den Grünen sein sollte. Sie profitieren vielleicht am stärksten davon. Bei den Reaktionen der anderen Parteien finde ich jedoch ganz schlecht, wenn das Klima gegen andere Themen ausgespielt wird. Das sollten sie lieber mit ihren eigenen Schwerpunktthemen verbinden. Und für die Grünen wird es auch nicht ausreichen, sich nur als Klimapartei darzustellen. Nur mit diesem Thema gewinnt oder verliert man die Wahl nicht.

Wenn wir auf Bremen schauen, hat die CDU-Bundestagskandidatin Wiebke Winter die Klima-Union gegründet. Wie bewerten Sie das? So wie ich Sie gerade eben verstanden habe, sagten Sie, es sei keine gute Idee, sich gegen das Klima zu positionieren, aber man sollte auch nicht zur Kopie der Positionen anderer werden.

Ich kenne diese Initiative jetzt nicht genau, aber ich sage mal so: Es ist ein Punkt, dieses Thema zu besetzen. Das muss aber natürlich authentisch hinterlegt sein. Die Wähler und Wählerinnen merken das relativ schnell, wenn man sich auf der Zielgerade befindet und versucht, noch mal umzusteuern. Wenn das eine Person ist – das kann ich jetzt in dem Fall nicht sagen – die sich seit Längerem mit diesem Thema beschäftigt, erhöht das die Glaubwürdigkeit. Aber es darf auch nicht anbiedernd sein. Das Wesentliche, aus meiner Sicht, wird sein: Die Parteien haben ihre Kernthemen. Die Frage der Nachhaltigkeit ist eine große, gesellschaftliche Herausforderung und wir müssen gucken, wie wir das sozusagen mit den anderen Themen zusammenbringen.

Eine Partei, die sich in der Dauerkrise befindet, ist die SPD. Kanzlerkandidat Olaf Scholz zeigte sich bei der ARD-Sendung "Farbe bekennen" aber sehr entschlossen. Ist da überhaupt noch etwas möglich?

Dass Herr Scholz sich entschlossen zeigt, klar, ist das, was man ihm sozusagen diktiert hat. Es ist seine Rolle. Aber die Bundestagswahl wird für die SPD ein Desaster werden, da bin ich mir relativ sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, wie in der Kürze der verbleibenden Zeit das Ruder rumgerissen werden kann. Die einzige Hoffnung, die ich aus SPD-Sicht sehen würde, wenn sie stärker werden, wäre eine rot-rot-grüne Koalition.

Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt gehörte die SPD am Ende mit 8,4 Prozent zu den "kleineren" Parteien. Wenn Sie das als Politikwissenschaftler hören, woran denken Sie?

Das hat jetzt gar nichts mit meinen eigenen Präferenzen zu tun, aber das macht mich traurig. Weil die SPD für die Demokratie in der Bundesrepublik und darüber hinaus als älteste Partei eine ganz wichtige Rolle spielt. Es ist schade, dass eine Partei mit so einer großen Vergangenheit und so großen historischen Leistung sich selbst so abgewirtschaftet hat. Und nicht mehr in der Lage ist, ihr Thema so klar zu vertreten, dass es zumindest reicht, um neben der CDU eine zweite Volkspartei anzubieten.    

Die FDP liegt in einigen Prognosen auf dem gleichen Niveau wie die SPD – oder nur leicht darunter. Wie erklären Sie das?

Die FDP ist eine Partei, bei der der Niedergang nicht so groß ist, weil sie sich noch nie zu so hohen Prozentpunkten aufgeschwungen hatten. Die hatten natürlich auch noch eine andere Rolle, als wir noch über viele Jahrzehnte auf Bundesebene dieses Drei-Parteien-System hatte. Da war die FDP trotz nie überragender Werte an der Regierung beteiligt und hatte auch eine wichtige Rolle in der Regierung. Diesen Status haben sie natürlich auch verloren. Wenn man das zurückspiegelt auf die SPD, dann ist es eigentlich so ähnlich wie bei der FDP, die auch im Laufe der 90er Jahre so ein bisschen ihre Identität preisgegeben hat. Die FDP hat auf das falsche Pferd gesetzt und viele Wähler und Wählerinnen verloren.

Obwohl die FDP laut den meisten Prognosen dieses Jahr mehr Stimmen gewinnen könnte als bei der letzten Bundestagswahl.

Ja, bei der FDP tat sich irgendwann die Frage nach der Fünf-Prozent-Hürde auf. Sie haben auch schon einmal das nicht geschafft, aus den Landtagen sind sie nach und nach rausgeflogen. Manchmal kommen sie zurück, manchmal nicht. So weit ist die SPD noch nicht, da haben Sie recht. Die SPD ist von einem viel höheren Berg gefallen als die FDP. Aber trotzdem ist die FDP von der politischen Rolle und die Bedeutung, die sie mal hatte, jetzt weit entfernt.

Sie haben vorher die "mediale Aufbereitung" erwähnt. Welche Rolle spielen dann die Medien in diesem Wahlkampf?

Die Medien spielen immer eine große, entscheidende Rolle im Wahlkampf. Die Medien spielen eine wichtige Rolle in der Beschleunigung von bestimmten Themen, in der Generierung von Aufmerksamkeit. Im Prinzip sind sie das Gegenüber von Politikern im Wahlkampf. Diese agieren für die Medien und reagieren auf die Medien. Das ist ihre Möglichkeit, sich darzustellen. Der direkte Kontakt mit Wählern und Wählerinnen ist eh schwierig und findet in Pandemiezeiten noch weniger als bisher statt. Medien sind das Zielhorizont für die Menschen, die sich im Wahlkampf befinden.

In Pandemiezeiten umso mehr. Der Wahlkampf findet nicht mehr auf dem Marktplatz statt, sondern im Netz. Ist dies eine ganz andere Art des Wahlkampfs?

Ja, tatsächlich. Wobei: Auch in Nicht-Pandemie-Zeiten gehören diese Wahlkampfinszenierungen zu der medialen dazu. Wenn der SPD-Kanzlerkandidat hier auf den Marktplatz kommt, kommen eher "SPD-Groupies" dorthin. Bei anderen Parteien ist es auch so. Dabei geht es eher darum, Bilder zu erzeugen. Menschen, die applaudieren. Der Auftritt vor Ort ist gar nicht so wichtig. Wenn er nicht mehr stattfinden kann, brauchen Kandidaten und Kandidatinnen andere Inszenierungsformen. Das wird interessant sein zu beobachten. Aber ich glaube, dass der Wahlkampf selbst – von der Idee her – sich nicht groß unterscheidet von dem, was wir bisher hatten. Auch, weil die tatsächliche Begegnung mit den Menschen nicht so wichtig ist, für die Generierung von neuen Stimmen.

Inszenierungen, kleine Skandale: Wie können sich Wähler und Wählerinnen im politischen Gerangel der Parteien am Ende ein echtes Bild machen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Es ist schon notwendig, dass man sich über einen längeren Zeitraum für Politik interessiert und sie mitverfolgt. Denn je näher man zur Bundestagswahl hinkommt, desto weniger sind die Parteien in ihrem tatsächlichen Verhalten zu beobachten. Alle versuchen, sich möglichst attraktiv zu zeigen. Wenn man eine kurzfristige Information braucht, dann würde ich die Angebote der politischen Bildungszentrale nutzen. Ansonsten würde ich empfehlen, sich schon ab jetzt über die Medien zu informieren – und nicht erst eine Woche vor der Wahl.
  

Rückblick April: Was passiert, wenn die CDU sich weiter "zerlegt"?

Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Tag, 28. Mai 2021, 23:30 Uhr