Fragen & Antworten
Warum eine Bremerin jeden Tag an Karl Lauterbach schreibt
Silke Nücklaus will die Krankheit Lipödem bekannter machen. Deshalb postet sie täglich in sozialen Netzwerken – und richtet sich direkt an den Bundesgesundheitsminister.
Eine Bremerin postet täglich einen Instagram-Beitrag über ihre Krankheit, Lipödem, und taggt dabei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Die Politik soll sich der Beschwerden, die das Leben mit der Fettverteilungsstörung Lipödem mit sich bringt, bewusst werden, findet Silke Nücklaus. So postet sie auf ihrem Profil jeden Tag einen kurzen Beitrag, in dem sie über die alltäglichen Herausforderungen berichtet, vor die sie die Krankheit stellt.
Ob Abkühlung an heißen Tagen für die geschwollenen Beine, die man nicht operieren kann, weil eine Fettabsaugung zu teuer ist, oder die (mangelnde) Qual der Wahl, weil die Krankenkasse nur zwei Kompressionsstrumpfhosen pro Jahr übernimmt: Nücklaus übt durch Ironie Kritik an der Versorgung von Lipödem-Patientinnen.
Dabei hatte Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn bereits 2019 versucht, die Fettabsaugung für Betroffene zur Kassenleistung zu machen. Was hat sich seitdem getan? Und wie kann man diese noch rätselhafte Krankheit am besten behandeln? buten un binnen hat Ärzte, Betroffene und Experten befragt.
Was ist ein Lipödem und wie entsteht es?
Das Lipödem ist eine Fettverteilungsstörung. Dabei sammelt sich das Fett im Körper vor allem an den Beinen an, teilweise auch an Hüften und Armen. Der Umfang der Gliedmaßen reduziert sich nicht mit einer Diät oder durch Bewegung. Die genauen Ursachen sind noch unbekannt, allerdings wird eine Verbindung zu hormonellen Veränderungen vermutet, da die Krankheit vor allem in der Pubertät, aber auch nach der Schwangerschaft oder in den Wechseljahren entsteht. In erster Linie sind Frauen davon betroffen. Zudem soll die Genetik, also die Veranlagung in der Familie, eine Rolle spielen.
Wir sehen sehr viele Patientinnen, die berichten, dass ihre Schwestern, ihre Tanten, ihre Großmütter betroffen sind.
Klaus-Jürgen Walgenbach, Facharzt für plastische Chirurgie am Universitätsklinikum Bonn
Welche Symptome haben die Betroffenen?
Das Lipödem erkennt man daran, dass die Beine, teilweise auch Hüften und Arme, übermäßig massig sind im Vergleich zum Rest des Körpers. Die Fettmassen an diesen Stellen verringern sich auch bei einer Ernährungsumstellung nicht. Unter der Haut können sich dann Knoten bilden. Schreitet die Krankheit fort, können sich richtige Fettfalten entwickeln.
Hinzu kommen häufig Schmerzen in den betroffenen Gliedern, Schwierigkeiten bei Bewegungen, etwa wenn die Betroffenen die Arme lange hochhalten müssen, Treppen steigen oder auch bei langen Spaziergängen. Viele Patientinnen bekommen sehr leicht blaue Flecken. Das liegt daran, dass die kleinen Blutgefäße, die Kapillaren, beim Lipödem besonders brüchig sind. Auch eine Druckempfindlichkeit der Haut, etwa beim Kratzen, sowie Spannungsgefühle können vorkommen.
Zwischendurch habe ich das Gefühl, dass sich ein Baseball-Schläger in meinen Oberschenkel rammt.
Silke Nücklaus, Betroffene aus Bremen
Bei der Krankheit unterscheidet man zwischen drei Stadien: Im Stadium I ist das Lipödem noch nicht besonders ausgeprägt, aber die Patientinnen können bereits Schmerzen und ein Schweregefühl haben. Im Stadium II wird die Haut unebener, Knötchen können bereits erkennbar sein. Im Stadium III kann die Krankheit so fortgeschritten sein, dass das Gewebe schon überhängt und sich Fettfalten bilden.
Im Stadium I sieht es vielleicht das ungeübte Auge noch nicht mal richtig, aber die Patienten beschreiben schon Schmerzen und Beschwerden.
Klaus-Jürgen Walgenbach, plastischer Chirurg
Wie kann man Lipödem ein behandeln?
Ein Lipödem kann für die Betroffenen sowohl physisch als auch psychisch sehr belastend sein.
Ich finde meine Beine alles andere als hübsch, also überlege ich, was ich anziehe, wo ich hingehe.
Silke Nücklaus, Betroffene
Momentan gebe es kein Heilmittel, das die Krankheit komplett verschwinden lasse, sagt der plastische Chirurg Klaus-Jürgen Walgenbach. Allerdings können zwei Methoden die Symptome lindern: die sogenannte konservative Therapie mit Lymphdrainage-Massagen und Kompressionswäsche, die man auf Dauer tragen muss, oder die Liposuktion, also eine Fettabsaugung. Dabei werden krankhafte Fettmassen entfernt.
Mit der operativen Methode hat man die mit Abstand größte Chance, ein dauerhaftes Ergebnis und Beschwerdefreiheit zu erlangen – was dem Gedanken einer Heilung am nächsten käme.
Klaus-Jürgen Walgenbach, plastischer Chirurg
Welche Leistungen werden von den Krankenkassen übernommen?
Die konservative Therapie wird von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, wie der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV) bestätigt. Darin sind zwei Kompressionsstrumpfhosen pro Jahr enthalten sowie die Drainage-Therapie.
Eine Fettabsaugung ist nur im Stadium III Kassenleistung – und das auch nur bis einen Body Mass Index (BMI) von 35. Der BMI drückt das Verhältnis zwischen Körpergröße und Gewicht aus. Wer darüber liegt, muss zuerst die Adiposität behandeln lassen. Außerdem müssen die Patientinnen davor mindestens sechs Monate lang eine konservative Therapie durchgemacht haben, die keine ausreichende Linderung der Beschwerden gebracht hat.
Was kritisieren Erkrankte?
Betroffene beklagen, dass sie erst warten müssen, bis die Krankheit so schlimm geworden ist, dass sie Stadium III erreicht hat, damit die Krankenkassen die Operationskosten übernehmen. Auch der BMI von maximal 35 wird teilweise kritisiert, da das Lipödem eine Gewichtszunahme mit sich bringt, die man nicht beeinflussen kann.
Im Moment ist es so, dass sie warten, bis es ganz, ganz schlimm ist, und dann wird sie vielleicht bezahlt. Das passt nicht.
Silke Nücklaus, Betroffene
Eine Fettabsaugung kostet mehrere Tausend Euro, für viele Patientinnen ist sie nicht bezahlbar. Je nach Art und Anzahl der Eingriffe können sogar um die 20.000 Euro fällig sein. Oft herrscht zudem noch Unwissenheit über die Krankheit, manche Betroffene berichten von einem langen Weg bis zur richtigen Diagnose.
Was sagen die Verantwortlichen?
Den Krankenkassen ist die Diskussion rund um die Behandlungskosten bekannt. Sie verweisen jedoch auf die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), der auf Bundesebene bestimmt, welche medizinischen Leistungen von den Krankenkassen übernommen werden, sowie auf die laufende Studie, die die Wirksamkeit und Risiken der Fettabsaugung bei Lipödem in den nächsten Jahren bewerten soll.
Wir wollen unsere Versicherten so gut wie möglich versorgen. Allerdings sind wir auch verpflichtet, dabei wirtschaftlich zu handeln. Medizinische Verfahren zu bezahlen, die sich als nicht sinnvoll erweisen oder keinen echten Zusatznutzen haben, dürfen wir also nicht. Das wird unter anderem auch von der Aufsicht geprüft.
Jörn Hons, Sprecher AOK Bremen-Bremerhaven
Der Spitzenverband weist vor allem auf die unbefriedigende Studienlage hin. Die laufende Studie des GBA soll erst 2024 abgeschlossen sein. Der Bundesausschuss bestätigt, er habe bislang keine Entscheidung getroffen, da es nicht genug Studien gab. Um das Leiden der Frauen zu verringern habe man trotzdem beschlossen, Liposuktion bei Lipödem im Stadium III zu übernehmen. Aber: Ab einem sehr hohen BMI steige das Risiko von Komplikationen erheblich.
Wir hatte früher überhaupt keine Chance für diese Operation, weil die Studienlage so dünn ist. Jetzt haben wir zumindest für Frauen, die ganz stark betroffen sind, die Möglichkeit, diese Leistung anzubieten. An der eigentlichen Ausgangssituation hat sich aber nichts verändert. Wir warten händeringend auf diese Studie.
Ann Marini, GBA-Sprecherin
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 1. Dezember 2022, 19:30 Uhr