Analphabetismus bei Erwachsenen: Eine Bremerhavenerin berichtet
Jeder achte erwerbsfähige Deutsche kann nicht richtig lesen und schreiben. In Bremerhaven soll eine Ausstellung Verständnis für das Problem schaffen — und Betroffene erreichen.
Wer als Erwachsener nicht richtig lesen und schreiben kann, dem fällt der Alltag schwer. Wie schwer, weiß Elena Bernkendorf aus eigener Erfahrung. "Man kann Anträge nicht richtig ausfüllen, man versteht die Post nicht richtig", erzählt die Bremerhavenerin im Gespräch mit buten un binnen. Hinzu kommen Momente, die unangenehm sind — teils sogar im familiären Miteinander.
Man kann nicht richtig Einkaufszettel schreiben. Und wenn danach die eigenen Kinder sagen: "Mama, du hast das Wort 'Milch' wieder falsch geschrieben", dann ist das richtig peinlich.
Elena Bernkendorf
Wie viele andere Betroffene verschwieg Bernkendorf ihren Analphabetismus lange Zeit. "Ich habe mich geschämt, das zu sagen", betont die Bremerhavenerin. Irgendwann aber suchte Bernkendorf sich Hilfe, um ihr Stigma loszuwerden: Über die Awo Bremerhaven nahm sie an einem Kurs teil, bei dem Analphabeten lesen und schreiben lernen — und das mit Erfolg.
Wenn man die ersten Wörter richtig geschrieben hat, fühlt sich das richtig gut an.
Elena Bernkendorf
Betroffene Analphabeten sind schwer erreichbar
Analphabetismus ist in Deutschland ein weitverbreitetes Problem — zumindest verbreiteter, als es vermutlich viele Nicht-Betroffene erwarten: Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung können rund zwölf Prozent aller erwerbsfähigen Deutschen nicht richtig lesen oder schreiben. Grundlage hierfür ist eine Studie aus dem Jahr 2018. Demnach leiden in Deutschland mehr als sechs Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren an Lese- und Schreibschwierigkeiten.
Der Studie zufolge leben somit schätzungsweise allein in Bremerhaven rund 9.000 Erwachsene, die Probleme beim Lesen und Schreiben haben. Ihnen Hilfe über Kurse zu vermitteln, ist schwierig. "Wir erreichen die Menschen nicht so gut, weil sie sich verstecken und nicht darüber sprechen", sagt Manuela von Müller vom Arbeitsförderungs-Zentrum Bremerhaven (Afz). Wegen der oft vorherrschenden Scham vermuten Experten, dass die Dunkelziffer bei der Zahl der Analphabeten noch höher liegen könnte.
Gerade in Deutschland gehen alle davon aus, dass man lesen und schreiben kann. Aus unterschiedlichen Gründen ist das aber eben nicht immer so.
Afz-Projektleiterin Manuela von Müller
"Buchstäblich fit werden"
Um auf die verschiedenen kostenlosen Angebote in Bremerhaven hinzuweisen, präsentieren das Afz und die Awo aktuell in der Stadtbibliothek die Ausstellung "Buchstäblich fit werden". Schautafeln und Plakate aus den Kursen, die Schreiberfolge ehemaliger Analphabeten zeigen, sollen Menschen aus dem Umfeld der Betroffenen auf die Projekte aufmerksam machen. "Menschen also, die zum Lesen herkommen und sich dann darüber informieren", sagt Projektleiterin von Müller.
Wir wollen zeigen, wie viel Spaß die Teilnehmenden dabei hatten, wieder ins Lesen und Schreiben hineinzukommen.
Afz-Projektleiterin Manuela von Müller
Zugleich hoffen die Verantwortlichen darauf, dass die Ausstellung einen offeneren Umgang mit dem Thema schafft. "Dann hätten es die Menschen auch nicht so schwer", betont von Müller. "Sie müssten sich nicht verstecken, sondern könnten offen sagen: 'Ich suche mir jetzt ein Angebot.'" Die Ausstellung ist noch bis zum 18. Juni in der Bremerhavener Stadtbibliothek zu sehen.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen um 6, 15. Mai 2024, 18:00 Uhr