Interview
NS-Todesmärsche nahe Bremen: "Ich sah, wie er sein Leben aushauchte"
Als Kind wurde Johann Dücker Zeuge, wie ein Todesmarsch am Haus seiner Eltern vorbeizog – und wie Soldaten zwei Männer erschossen. Fast sein Leben lang suchte er nach den Toten.
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden innerhalb Deutschlands unzählige KZ-Häftlinge in andere Lager gebracht. Tausende Leichen lagen laut der Bundeszentrale für politische Bildung entlang der Routen. Die Motive für diese Märsche sind bis heute unklar. Vermutlich sollten die Gefangenen vor den anrückenden Truppen der Alliierten und der Roten Armee verborgen werden. Die Opfer selbst sprachen von "Todesmärschen".
Bremen war im März und April 1945 ein Drehkreuz für die Märsche in Norddeutschland. Vermutlich zogen laut Marcus Meyer von der Landeszentrale für politische Bildung rund 5.500 Häftlinge durch Norddeutschland. Im Konzentrationslager Farge bei Bremen kamen die Häftlinge zusammen. Ein Zeuge dieser Märsche war Johann Dücker. Der heute 88-Jährige beobachte einen solchen Marsch als neunjähriges Kind in der Nähe von Bremervörde. Mit buten un binnen-Reporterin Finja Böhling spricht er über seine Erlebnisse.
Herr Dücker, wie sind Sie in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen?
Zunächst habe ich davon nicht so viel mitbekommen. Aber in der Schule mussten wir immer am 20. April – dem Geburtstag von Adolf Hitler – aufstehen und die Hand zum Gruß an den "Führer" ausstrecken. In jedem Klassenzimmer hing ein Bild von ihm.
Als kleine Kinder waren wir sehr behütet, aber Anfang der 40er-Jahre ging es los, als die Hitlerjugend für Kinder ab zehn Jahren zur Pflicht wurde. Wir haben ein bisschen darauf geschielt, die Uniformen bewundert. Manchmal hat man mitgegrölt, wir haben nicht unbedingt verstanden, welche Lieder gesungen wurden. Die Hitlerjugend hatte etwas "zackiges".
Ich habe miterlebt, wie ein Nachbarsjunge zur Hitlerjugend gebracht wurde. Einmal habe ich mitbekommen, wie er von anderen Jungen aus der Hitlerjugend geschlagen wurde – zehn Schläge. Als man mich sah, sagte man mir, ich solle verschwinden – oder ich würde auch Schläge kriegen. Er wurde geschlagen, weil er nicht zum Dienst erschienen ist und hatte wohl öfter mal gefehlt. Nach dem Erlebnis wusste ich, hinter der Hitlerjugend steckt etwas Anderes.
Kurz vor Kriegsende zog ein Todesmarsch am Haus Ihrer Eltern vorbei. Was haben Sie an diesem Tag gesehen?
In Vierer-Reihen marschierten die Menschen. Daneben waren Wachleute, aber nicht von der SS. Die Menschen konnten kaum gehen, hin und wieder war sogar jemand auf eine Karre geladen und wurde geschoben.
Wir haben an der Straße gestanden. Meine Mutter sagte: "Die haben doch sicher Durst bei diesem warmen Wetter. Kinder, holt mal Wasser!" Dann haben wir Kinder Wasser gepumpt und es zur Straße gebracht. Und dann kam der Wachmann und kippte es um. Meine Mutter fragte: "Was soll das?" Er sagte: "Ach, die haben alle Durst. Das ist ein Anfang ohne Ende. Und wenn das losgeht, dann gehorchen die nicht mehr. Und dann müssen wir von der Waffe Gebrauch machen."
Unser Nachbar sagte uns, die Leute wären Sträflinge. Meine Mutter fragte daraufhin den Wachmann, ob das stimmte. Der antworte "Sträflinge? Ach, sagen wir lieber Häftlinge, das trifft besser zu." Das alles ging den ganzen Tag über. Abends ebbte es dann ab.
Was geschah nach diesem Tag?
Am nächsten Tag hielt in der Nähe unseres Hauses ein Lastwagen, ein Militärwagen. Da waren über zehn Soldaten hinten drauf. Die Soldaten sprangen vom Lastwagen und liefen bei uns über den Hof. Wir haben uns nicht weiter darum gekümmert, hier liefen ja dauernd Soldaten herum. Aber die Soldaten suchten zwei Männer, die aus dem Todesmarsch geflohen waren.
Wir wurden neugierig und sind mitgelaufen. Fünf bis zehn Meter sind wir übers Feld gelaufen. Das Feld hatte auch ein ganz bisschen Gefälle – und auf einmal standen wir vor einem Toten. Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Die Soldaten waren dort noch mit einem anderen Mann. Als wir da standen, habe ich keinen Befehl gehört, aber ich meine, dass von einem Soldaten ein kräftiges Nicken ausging. Er nahm seine Pistole, hob sie an und setzte sie in Höhe des Genicks an. Dann staubte da so Gewebeteile aus dem Mund und er [das Opfer, Anmerkung der Redaktion] fiel schon nach vorne über. Ich sah, wie er sein Leben aushauchte.
Was ist anschließend mit den Toten passiert?
Nachmittags hielt dann bei uns ein Geländewagen an. Ein paar Soldaten mit Spaten auf dem Rücken stiegen aus und gingen über den Hof. Wir konnten aus dem Küchenfenster zuschauen und da sagte mein Vater: "Mensch, die sollen den da doch nicht auf dem Feld begraben, ich will da doch noch wirtschaften."
Dann ist Vaddern da hingegangen und als er wiederkam, habe ich ihn zum ersten Mal weinen sehen. Er hatte darum gebeten, die Leiche am Feldrand zu begraben, er wollte doch nicht über Menschen hinweg pflügen. Da haben die Soldaten ihn angebrüllt: "Sie pflügen doch auch sonst Mist unter."
30 Jahre später haben Sie sich auf die Suche nach den Leichen gemacht. Doch erst 2023 haben Sie die Überreste gefunden. Wie ist es dazu gekommen?
Lange habe ich mit einem guten Freund gesucht, aber wir fanden nichts. Dann habe ich gesagt: "Wir könnten hier einen Gedenkstein setzen. Der braucht nicht da zu sein, wo die begraben sind. Den Stein setzen wir an die Straße, dass den viele sehen und da kommt eine entsprechende Beschriftung ran."
Viele Jahre später suchten wir wieder – dieses Mal mit einem Bagger. Michael [Michael Freitag-Parey ist kirchlicher Friedenspädagoge an der Gedenkstätte Lager Sandbostel, Anm. d. Red.] war federführend dabei. Als wir die Überreste gefunden haben, saß ich da als alter Mann auf meinem Rollstuhl – es war eine Erleichterung.
Und nach dem Fund haben Sie die Männer auf dem Friedhof bestattet.
Ich habe gedacht, wenn die bei uns auf den Friedhöfen liegen, und da gehen Leute hin und suchen irgendwann ihre Angehörigen, zumal die jetzt auch einen ansehnlichen Stein gekriegt haben, irgendwann kommt das dann ins Gespräch.
Die lagen doch wie räudige Füchse erschossen und hineingeworfen am Wegrand! Ich habe gedacht: Nur da auf dem Friedhof, nur hier und nur auf diese Weise konnten wir diesen Menschen ihre Würde zurückgeben.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 9. Juli 2024, 19:30 Uhr