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ADHS-Diagnose mit Mitte 40: "Ich habe mein Leben besser verstanden"
Die ADHS-Diagnose bekam Rasmus R. vor zwei Jahren. Da war er längst erwachsen, mehrfacher Vater. Jetzt versteht er sich selbst – und das Auf und Ab seines Lebens besser.
Zu viele Gedanken zur gleichen Zeit, Reize prasseln ungefiltert auf einen ein: Das erleben ADHS-Betroffene. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung entsteht im Kindesalter, aber immer mehr Menschen erhalten ihre Diagnose erst als Erwachsene. Rasmus R. gehört dazu. Der 49-Jährige ist Industriekletterer, verheiratet, lebt mit seiner Frau und vier Kindern bei Bremen. Er weiß seit zweieinhalb Jahren von seiner ADHS und erzählt, wie das sein Leben beeinflusst.
Rasmus, wie war Ihr Tag heute?
Mein Tag war heute - in Ordnung - würde ich sagen. Ich bin früh aufgestanden, hatte einen Kundentermin, habe nicht alles geschafft, was ich vorhatte, wie so oft, aber ich bin pünktlich nach Hause gekommen. Das ist schon mal ein großer Vorteil.
Wegen der Kinder?
Wegen der Kinder ist es schön – und richtig wichtig ist es wegen meiner Frau, weil die unter meinem Zustand am meisten leidet, auch dadurch, dass sie schon so lange mit mir zusammenlebt.
Die Kenntnis der ADHS-Diagnose konnte das nicht ändern – Ihre Frau hat heute noch zu leiden?
Hat sie heute noch. Das hat damit zu tun, dass ADHS-Patienten in der Regel "zeitblind" sind. Das heißt, dass ich die Zeit nicht so wahrnehme, wie normale Menschen und die mir dann flöten geht. Wenn ich in irgendwas drinstecke, in einer Arbeit, in Gedanken und weiß, ich muss in einer halben Stunde losfahren, dann gucke ich wieder auf die Uhr und ich bin schon deutlich über den Abfahrtszeitraum hinaus zum Beispiel. Und das zieht sich durch mein ganzes Leben.
Wie äußert sich Ihre ADHS in der Familie außer durch Unpünktlichkeit?
Ich bin in vermeintlich einfachen Situationen manchmal aufbrausend. Und es fällt mir schwer, die Konzentration zu halten, ich bin leicht abgelenkt. Mit der steigenden Anzahl der Kinder, die dann auch immer um uns herum sind, ist natürlich das Stresslevel mit den ganzen Ablenkungen, deutlich gestiegen. Und wenn mir das zu viel wird, mit den Reizen in meinem Umfeld, dann blende ich viel aus. Teilweise nehme ich ein Gespräch an und reagiere auch, aber das kommt nicht bei mir an. Ich nehme es nicht wirklich wahr. Und zwei Tage später kann ich mich nicht daran erinnern, dass meine Frau mir etwas mitgeteilt hat. Den größten Leidensdruck machen in der jetzigen Situation aber die Unpünktlichkeit und die mangelnde Fähigkeit zur Selbstorganisation.
Hat das etwas damit zu tun, dass sie die Reize in Ihrer Umgebung Sie überfordern?
Das eine sind die Reize von außen – aber das andere ist das Chaos im Kopf. Das setzt ein, wenn ich Stille um mich herum habe. Die extremsten Momente sind, wenn ich viel über den Tag erlebt habe, oder ich generell in einer ereignisreichen Phase bin, viel erledigen muss. Dann kann es vorkommen, dass ich nachts in einem dunklen Raum liege, komplett schwarz, rabenschwarz, mit offenen Augen sehe ich diese Dunkelheit – und in dem Moment, wo ich die Augen schließe, wird es taghell und Gedanken schießen durch den Kopf.
Das ist dann so ein buntes Feuerwerk an Gedanken aus so vielen verschiedenen Bereichen, dass man das nicht mal geordnet kriegt in der Situation. Gedanken und Gefühle, die einfach wild im Kopf herumschwirren.
Rasmus R., ADHS-Betroffener
Das hindert Sie daran, sich zu erholen?
Ja, weil man diese Gedanken nicht abschalten kann. Das ist dann so ein buntes Feuerwerk an Gedanken aus so vielen verschiedenen Bereichen, dass man das nicht mal geordnet kriegt in der Situation. Gedanken und Gefühle, die einfach wild im Kopf herumschwirren. Ich habe das lange Jahre unterdrückt, indem ich erst ins Bett gegangen bin, wenn ich völlig am Ende war. Auch heute noch fällt es mir total schwer, zu einer vernünftigen Zeit ins Bett zu gehen. Selbst, wenn ich um 5 Uhr aufstehen muss, gehe ich selten vor 1 Uhr ins Bett.
Wie war das in der Kindheit und Jugend, gab es da Signale?
In der Schule war ich schon "Zappelphilipp" und "Klassenclown". Bis heute brauche ich ein Maß an körperlicher Aktivität, damit ich abends zufrieden ins Bett gehen kann. Und früher, zwischen 19 und 24 Jahren etwa, bin ich auf Kräne geklettert. Hinten auf der Bürgerweide standen damals hohe Kräne, ich habe in der Nähe gewohnt, und da habe ich gerne mal einen Schlenker gemacht und bin da hochgeturnt.
Und ich habe im Bremer Nachtleben gearbeitet, das war auch in dem Alter, als Türsteher und war Security bei Konzerten und Veranstaltung. Zu der Zeit habe ich Drogen genommen, gekifft und nach der Schicht noch auf Partys Tabletten und Pulver genommen.
Stehen die Drogen mit der ADHS in Zusammenhang?
Ich könnte mir vorstellen, dass es mit reinspielt. Rückblickend denke ich, dass das bei mir anders wirkt. Ich bekomme jetzt ja Amphetamine verschrieben. Bei normalen Menschen wirkt es aufputschend, bei mir räumt das den Kopf auf. Ich vermute, früher war das schon bei den Drogen so.
Mein Psychiater hat mir gesagt, dass ich bei der Ausprägung meiner ADHS auch schon sehr alt geworden wäre. Viele würden aufgrund des dazugehörigen Drogenkonsums und wegen Problemen mit Autoritäten mit dem Gesetz in Konflikt kommen, Knast-Aufenthalte, Abwärtsspirale halt, die gehen dann vor die Hunde.
Und das Problem mit Autoritäten ist bei mir bei der Bundeswehr zum Tragen gekommen.
Was ist da geschehen?
Damals gab es noch Wehrpflicht. Doch wegen meiner mangelnden Struktur habe ich nicht einmal daran gedacht, eine Verweigerung zu schreiben. Das wäre natürlich total sinnvoll gewesen, dass ich Zivildienst mache.
Ich habe mir dann damals einen Ring durch die Lippe gestochen und morgens beim Antreten habe ich den auch nicht mehr rausgenommen. Ich wurde mehrmals befehligt, dann wurde ich zum Spieß beordert. Und weil ich den Ring nicht rausgenommen habe, wurde ich festgenommen und sie haben mich weggesperrt.
Wie lange waren Sie weggesperrt?
Ich hatte ein Buch im Stiefel, als ich das lesen wollte hat mir das jemand weggenommen. Dann habe ich die klitzekleine Zelle kurz und klein geschlagen geschlagen, ich habe rumgeschrien. Dann habe ich Handschellen bekommen, wurde zum zum Psychiater gefahren und der hat mich zehn Minuten interviewt. Den Text des Schreibens weiß ich bis heute: "Akut labile Persönlichkeitsstruktur, im Alter von zehn Jahren Erstkontakt mit Jugendpsychiater, Scheidung der Eltern. Herr R. ist meiner Meinung nach nicht diensttauglich, aufgrund mangelnder Fähigkeit, sich ändernden Lebensverhältnissen anzupassen." Da war ich ausgemustert.
Das klingt wie Symptome einer ADHS, die nicht erkannt wurde: Impulsivität, Probleme mit Autoritäten, Drogen.
Ja (überlegt). Mir gehen noch viele andere Sachen durch den Kopf. Aber das Problem bei der Bundeswehr war, dass ich das nicht wollte und ich keine Wahl hatte. Alles, was ich will, habe ich bisher geschafft - dann kann ich mich auch allen Veränderungen anpassen.
Sie haben auch mit den Drogen aufgehört.
Mit den harten Drogen. Bis ich Medikamente gegen ADHS bekommen habe, habe ich aber jeden Tag gekifft. Nicht viel, ich habe immer ein bisschen was - ganz wenig - in meine Zigarette gebröselt, um im Kopf runterzukommen.
Sie sind Industriekletterer und jahrelang in schwindelerregende Höhen aufgestiegen. Wenn man sich nicht konzentrieren kann und Cannabis raucht, ist das nicht sehr gefährlich?
Nein, ich denke eher das Gegenteil. Ich bin vielleicht zu dem Job gekommen, weil eines der Symptome ja eine erhöhte Risikobereitschaft ist, dass ich den Nervenkitzel suche. Und ich glaube, das war eher ein Glücksfall. Denn in meinem Job ist es zwar so, dass man am Ende eine ganz seriöse Tätigkeit erledigen muss, aber das buchstäblich am seidenen Faden, mit einer geringen Fehlertoleranz. Und das hat mir ganz lange Jahre geholfen mich zu fokussieren – zumindest beruflich.
In den meisten anderen Jobs wäre es wohl nie was geworden. Denn das reine Wiederholen normaler Arbeiten ist nicht meins. Beim Industrieklettern war es immer fordernd und unter der Bedingung "Lebensgefahr", wenn man nicht aufpasst. Und so war das eine tolle und prägende Zeit.
Im Privatleben habe ich das bis heute nicht gefunden, mit meiner ganzen Aufmerksamkeit in diesem Familiengeschehen anzukommen. Und daran teilzuhaben, ohne etwas auszublenden, weil das alles zu viel ist.
Sind Sie deshalb als Erwachsener zum Arzt gegangen?
Ich hatte schon länger einen Verdacht, dass bei mir was nicht stimmt. Eigentlich habe ich es mir gar nicht erklärt und dachte, ich ticke ein bisschen anders. Lange Jahre hat es mich nicht interessiert, ich habe einfach gedacht, ich bin so wie ich bin: "Ich gebe mir Mühe und das reicht schon irgendwie." Und phasenweise bei bestimmten Tätigkeiten funktioniert das dann auch mal, aber es sind viele verschieden Symptome - da wollte ich Gewissheit haben.
In meiner längsten Beziehung mit meiner jetzigen Frau habe ich gemerkt, was das für Schäden anrichtet – oder was das für Emotionen auslöst, wie es andere Menschen verletzen kann, wenn ich so bin wie ich bin. Das war mit einer der großen Punkte, weshalb ich etwas daran ändern wollte.
Rasmus R., ADHS-Betroffener
Dann kam die Diagnose ADHS. Wie war das mit dieser Erkenntnis?
Es war mir schon klar, aber dann war es offiziell, und manchmal braucht man eine offizielle Ansage: "Jetzt kann ich mich verhalten, kann eine Behandlung starten und das angehen." Vorher war es nur diffus. Ich hatte ein Buch über ADHS gelesen, das hatte phasenweise teilweise schon ein Aha-Affekt, war ein Augenöffner, bei dem mir mein bisheriges Leben klarer geworden war.
Jetzt nehmen sie Medikamente. Was ist anders als vorher?
Das kann man mit den Worten von der Freundin meiner Frau beschreiben, die auch ADHS hat. Sie sagt: "Im Normalfall rieseln einem die Gedanken durch den Kopf wie buntes Konfetti – nach der Einnahme der Medikamente ist es so, dass in dem einem Bereich etwas gelbes Konfetti, ist, in dem anderen blaues und in einem anderen grünes." Das gibt Ordnung. Und ein Stück mehr Ruhe und Gelassenheit.
Wie macht sich das bemerkbar?
Im Tagesablauf. Dass Gedankenfeuer ist nicht mehr so unstrukturiert, nicht mehr so völlig außer Kontrolle.
Was hat die Diagnose mit Ihrer Familie gemacht?
Spürbar hat sich noch nicht so viel geändert, vor allem für meine Frau nicht. Das einzige, was sich verändert hat, ist die Sichtweise auf mich und meine Defizite – und das Erkennen der Notwendigkeit, zu handeln.
Was wünschen Sie sich jetzt für die Zukunft?
Ich probiere gerade eine App aus, um mich besser zu organisieren. Und ich wünsche mir, dass dieses System möglichst bald in Schwung kommt und alles strukturierter und effektiver läuft.
ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen und Anteil an allen ADHS-Diagnosen bei der AOK Bremen/Bremerhaven
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 25. August 2023, 19:30 Uhr