Inklusion in Gefahr: Assistenzkräfte an Bremer Schulen fehlen
Fast 230 Schulbegleiter für Kinder mit Behinderungen oder sozial-emotionalen Auffälligkeiten fehlen in Bremen. Wie geht es Familien ohne Assistenz? Und: Was tut Bremen dagegen?
Seit anderthalb Jahren wartet Annika Piepjohn auf eine Schulassistenz für ihren Sohn Max. Max ist zehn Jahre alt, vor vier Jahren wurde bei ihm eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Ohne Assistenz ist es für ihn schwierig, in der Schule zurecht zu kommen. "Es gibt Konfliktsituationen, die dann auftreten. Das hat dazu geführt, dass Max vor den Sommerferien an drei Tagen kurzbeschult werden musste. Das wäre nicht passiert, wenn die persönliche Assistenz da gewesen wäre", sagt die Bremerin.
Die ersten zwei Schuljahre konnte Max mit einer Assistenz zur Schule gehen. Danach wechselte seine Assistenzkraft den Job. Seitdem versucht die Familie aus Hemelingen eine neue Assistenz zu bekommen. "Es ist nichts zu machen. Es ist egal, wie oft man beim Träger anruft, es tut sich nichts", sagt Piepjohn. Max hat mit seiner Diagnose einen Rechtsanspruch auf eine Schulassistenz.
Anfangs kam Max auch ohne Schulbegleitung in der Schule zurecht, nach wenigen Wochen begannen aber die Probleme. "Streit, Wutanfälle, Konflikte, Weglaufen", zählt Piepjohn auf. Ohne Assistenz wurde er vor den Sommerferien an drei Tagen in der Woche kürzer beschult, das heißt der Unterricht endete für ihn dann um 12:30 Uhr – und damit einige Stunden früher als sonst. Annika Piepjohn arbeitet als Pflegefachkraft, momentan aber nur wenige Stunden in der Woche: "Ich kann nicht so arbeiten, so wie ich wollen würde", sagt die 43-Jährige. Die Stunden aufzustocken traut sie sich nicht, weil sie Angst hat, dass ihr Sohn wieder nur kürzer die Schule besuchen kann. Sie hofft aber, dass das nicht eintritt. Denn auch Max ging es damit nicht gut: "Er hat nicht verstanden, warum er nicht voll zur Schule gehen kann. Für ihn war das ein Stück weit Ausgrenzung in der Zeit."
Er möchte natürlich als Kind ganz normal wahrgenommen werden, so wie andere Kinder auch und nicht als Kind mit Besonderheiten.
Annika Piepjohn über ihren Sohn Max
Auch wenn Max im Moment die volle Zeit in der Schule sein kann, stelle die Situation ohne Assistenz die Familie vor Herausforderungen. "Wenn Max gefrustet von der Schule kommt, lässt er das natürlich zuhause auch geballt raus", erzählt Annika Piepjohn. Ihn dann zu beruhigen, weil es in der Schule doof gelaufen sei, belaste sie. Zudem wolle der Viertklässler zurzeit morgens nicht zur Schule gehen.
Es soll zwar in Bremen Inklusion gemacht werden, aber gelebt wird sie nicht. Und das macht es Familien wahnsinnig schwer und letztendlich sind die Kinder die Leidtragenden.
Annika Piepjohn über ihre Erfahrungen mit der Inklusion in Bremen
Behörden geben Fachkräftemangel als Grund an
Annika Piepjohn und ihr Sohn sind nicht die Einzigen, die mit diesen Problemen kämpfen. In Bremen fehlen laut Sozial- und Bildungsbehörde insgesamt knapp 230 Schulassistenzen. 183 Kinder mit seelischen Behinderungen wie Autismus oder ADHS haben derzeit keine Schulbegleitung. Das heißt, ein Viertel der rund 700 Kinder mit einer bewilligten individuellen Unterstützung haben diese nicht erhalten. Dazu kommen noch weitere unbesetzte Stellen für Kinder mit körperlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung. Das Sozial- und Bildungsressort begründet die Lücke mit dem Fachkräftemangel. Für betroffene Kinder und ihre Eltern ist das ein Problem. In einigen Fällen können die Kinder dann gar nicht zur Schule gehen, obwohl die Kinder einen Rechtsanspruch auf eine persönliche Assistenz haben und Schulpflicht besteht.
Bremens Landesbehindertenbeauftrager Arne Frankenstein hört in seiner Dienststelle zuletzt immer öfter, dass Familien durch fehlende Assistenzen Probleme haben: "Es ist eine ganz erhebliche Belastung. Das sind Familien, die ihre gesamten Ressourcen dafür aufwenden, um die Kinder zu unterstützen, die das nicht nur tagsüber machen, sondern auch nachts. Sie brauchen dringend, über diesen Bildungsanspruch hinaus, diese Zeit, um auf der einen Seite kurz mal zur Ruhe zu kommen, sich zu entlasten, auf der anderen Seite aber auch erwerbstätig sein zu können." Aus seiner Sicht sollten die Schulen durch multiprofessionelle Teams so ausgestattet werden, dass Kinder, auch wenn ihre persönlichen Assistenzen fehlen, zur Schule gehen können.
Schulen stehen vor Dilemma
In der jetzigen Situation stellen die fehlenden Assistenzen auch die Schulen vor Herausforderungen. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht die Situation kritisch. "Die Schulassistenzen sind ganz zentral, weil wir ja Inklusion machen. Und das funktioniert nur gut, wenn die Assistenzen auch da sind", sagt Andreas Staets von der GEW. Insgesamt brauche es mehr Personal in den Schulen, die fehlenden Assistenzstellen müssten dringend besetzt werden. "Es wird ja nicht aus Jux und Dollerei eine Schulassistenz genehmigt. Die Kinder brauchen häufig eine Eins-zu-eins-Betreuung." Wenn die Assistenzstellen nicht besetzt sind, stünden auch die Schulen und Lehrer häufig vor einem Dilemma: "Die Kinder zu Hause zu lassen, das ist natürlich für die Kinder überhaupt nicht gut. Aber wenn kein Unterricht möglich ist mit dem Kind, ist das auch nicht gut", sagt Andreas Staets.
Bremen testet Assistenzkräfte ohne pädagogische Ausbildung
Die Bremer Bildungs- und Sozialbehörde haben für das Problem zwei Lösungsansätze, zurzeit kann damit aber nur ein kleiner Teil der fehlenden Assistenzstellen aufgefangen werden. Sie erproben in einem Modellprojekt auch Menschen ohne pädagogische Ausbildung, aber mit "sozialer Erfahrung" als Schulbegleiter einzusetzen. Das sind zum Beispiel Eltern ohne pädagogische Ausbildung, die als Schulassistenzen arbeiten. Bisher werden von den Trägern, wie zum Beispiel dem Martinsclub oder der Lebenshilfe, die Assistenzkräfte je nach Bereich nach ihrer Qualifizierung eingesetzt. Im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung arbeiten zum Beispiel Erzieherinnen und Erzieher, im Bereich Persönliche Assistenz auch Kinder- und Heilerziehungspfleger. Das Modellprojekt läuft seit diesem September.
Der zweite Lösungsansatz sieht vor, sogenannte systemische Assistenzen in den Schulen einzusetzen. Eine Assistenzkraft kümmert sich in enger Kooperation mit der Lehrkraft dann um im Durchschnitt drei Kinder. Nicht mehr die Eltern sollen dann eine individuelle Assistenz beantragen, sondern die Schulen gemeinsam mit dem Zentrum für unterstützende Pädagogik. "In diesem Modell soll schneller und flexibler auf das einzelne Kind und den Bezug zur Gruppe eingegangen werden", erklärt die Behörde. Zuerst wird diese Lösung in einem Pilotprojekt an 15 Grundschulen in Bremen umgesetzt. Das Projekt ist bis zum Schuljahr 2024/2025 befristet. Ob es verlängert und weiter finanziert wird, ist derzeit nicht klar.
Familie Piepjohn profitiert von diesen Lösungsansätzen bisher nicht. Max besucht aktuell die vierte Klasse, seine Mutter Annika Piepjohn hofft, dass sie bald wieder eine Schulassistenz für ihren Sohn bekommt: "Die familiäre Situation ist ja ohnehin schon belastet durch die Erkrankung der Kinder. Und ab nächstem Jahr kommt er in die weiterführende Schule. Für den Übergang brauchen wir definitiv Unterstützung, weil das für ihn eine große Herausforderung sein wird."
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 19. September 2024, 8:36 Uhr