Fragen & Antworten

Studie dokumentiert Missbrauch über Jahrzehnte in Borkumer Kinderheim

Ein Kind sitzt auf einem Bett, davor steht ein Mann

Jahrzehntelanger Missbrauch in Kinderheim auf Borkum dokumentiert

Bild: dpa | imageBROKER | Olaf Heil

Angst und Demütigungen: Diese Atmosphäre erlebten viele "Verschickungskinder" – auch aus Bremen – im "Adolfinenheim" auf der Nordseeinsel Borkum. Eine Studie zeigt nun das Ausmaß.

Jahrzehntelang bis in die 1990er wurden zehntausende Jungen und Mädchen aus vielen Teilen Deutschlands zur Erholung oder auch zur Therapie in das "Adolfinenheim" geschickt, unter anderem aus Bremen und Niedersachsen. Für manche war das einfach nur Erholung am Meer – andere leiden bis heute an den Erfahrungen.

Solche sogenannten Kinderverschickungen gab es in der Nachkriegszeit in ganz Deutschland. Zu den Trägern des Hauses auf Borkum gehörten die evangelische Kirche und das Diakonissenmutterhaus in Bremen. Diakonissen aus der Hansestadt hatten über Jahrzehnte die Leitung. Und nachdem sich 2019 ein paar wenige Betroffene gemeldet haben, gab es hier Bewegung und jetzt eine neue Studie.

Was genau hat die Studie denn untersucht?

Die Studie haben das Diakonische Werk und die Bremische Evangelische Kirche vor ungefähr einem Jahr in Auftrag gegeben. Beauftragt wurden eine Autorin und ein Autor, die selbst ähnliche Erfahrungen in einem anderen Kinderheim gemacht haben. Die beiden haben einen Aufruf gestartet, auf den sich Betroffene aus ganz Deutschland gemeldet haben. Mit insgesamt 25 Betroffenen haben die Autoren geredet, vier Fälle sind in der Studie ausführlich dargestellt.

Lässt sich denn noch genau klären, was da auf Borkum mit den Kindern passiert ist?

Ganz genau kann man das nicht sagen, weil nicht alles dokumentiert ist und nicht mit allen Kindern über ihre Erlebnisse geredet wurde. Was klar ist, in diesen 75 Jahren zwischen 1921 und 1996 wurden um die 90.000 Kinder ins "Adolfinenheim" nach Borkum geschickt. Das ist nur ein Bruchteil. Es gibt sogar Schätzungen, die sagen dass in diesen Jahren in Deutschland etwa acht bis zehn Millionen Kinder in solche Heime verschickt wurden. Bundesweit gab es über die Jahrzehnte ca. 1.000 Kinderheim von unterschiedlichsten Trägern.

Was bedeutet das Wort "Kinderverschickung" überhaupt?

Nicht alle haben Schlimmes erlebt, aber eben viele. Konkret ging es um Kinder zwischen vier und zwölf Jahren quer durch alle Schichten, aber meist Kinder aus finanzschwachen Familien. Wenn eine Ärztin oder ein Arzt ein Attest ausgestellt hat, dass das Kind aus gesundheitlichen Gründen zur Erholung muss – weil es zum Beispiel zu dünn, zu klein, zu blass ist –, dann konnte es in ein Kinderheim verschickt werden. Die Kosten haben dann die Krankenkassen übernommen. Die Kinder sind dann für mehrere Wochen mit der Bahn ans Meer geschickt worden.

Und nach und nach ist öffentlich geworden, dass den Mädchen und Jungen dort wirklich schlimme Sachen passiert sind. Die Studie beschreibt das schon sehr explizit, was die Betroffenen auf Borkum erlebt haben. Keine sexuelle Gewalt, aber physische und psychische Gewalt. Unter anderem Schläge und manche Betroffenen haben erzählt, dass sie als Strafe Erbrochenes essen mussten, sich nackt vor den anderen ausziehen mussten oder nachts ausgesperrt wurden.

Das Foto zeigt unter anderem die Autoren der Studie zu den Missbräuchen im "Adolfinenheim".
Das Foto zeigt die Autoren der Studie, Achim Tischer (3. v. l.) sowie Vertreter der Evangelischen Kirche und der Diakonie. Bild: Pamina Rosenthal

Was haben denn die Autoren der Studie zu den Inhalten gesagt?

Einer davon ist Achim Tischer. Er war überrascht, wie die mittlerweile schon älteren Betroffenen so genaue Erinnerungen an ihre Kindheit sowie die Zeit im "Adolfinenheim" haben und wie sie eben teilweise noch darunter leiden, sagt er. Er beschreibt auch, dass die Betroffenen ganz unterschiedliche Wege gefunden haben, mit dem Erlebten umzugehen: Zum Beispiel Borkum nochmal besuchen, den Austausch mit anderen Betroffenen oder auch eine Therapie.

Das ist eigentlich eine sehr traurige Erkenntnis: Dass man in sechs Wochen eine Kinderseele schon so verletzen kann, dass es über Jahrzehnte anhält. Und die Kinder im Grunde als Erwachsene damit noch weiterleben.

Achim Tischer, Mit-Autor der Studie

Das "Adolfinenheim" war nicht ausschließlich in kirchlicher Hand. Auch die Bremische Diakonie war maßgeblich beteiligt. Wie steht die dazu?

Die Bremische Diakonie findet es wichtig und gut, dass es nun eine Aufarbeitung gibt. Sie ist auch an der Studie beteiligt, in Zusammenarbeit mit der Bremischen Evangelischen Kirche. Auf die Frage, wieso das jetzt aufgearbeitet wird, erklärt die Stellvertretende Leiterin der Kirchenkanzlei Jutta Schmidt, man habe das nicht gewusst. Zum Teil hätten sich die betroffenen Kinder geschämt, oft sei ihnen aber auch gedroht worden, nichts zu erzählen. Schmidt findet, dass die Kirche daraus lernen muss.

Das Thema ist damit auch nicht durch. Es sind auch noch Veranstaltungen oder Gottesdienste mit den Betroffenen geplant. Einzelheiten dazu gibt es noch nicht. Und Entschädigungen sind erstmal nicht geplant.

Ich glaube, dass wir insgesamt an ganz vielen Stellen lernen müssen, dass es wichtig ist, Erfahrungen aus der Vergangenheit, die bedrückend sind oder zu schwierigen Lebensläufen geführt haben, besprechbar zu machen. Und die Möglichkeit zu geben, dass das aufgearbeitet wird.

Jutta Schmidt, Bremische Evangelische Kirche

Autorin

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Nachmittag, 23. Januar 2024, 17:35 Uhr