Überlastung: Warum das Bremer Jugendamt am Anschlag ist
Was passieren kann, wenn das Jugendamt überlastet ist, hat der schreckliche Fall von Kevin vor 17 Jahren gezeigt. Und jetzt schlagen Amtsvormünder in Bremen wieder Alarm.
Wenn sich die Umstände im Bremer Jugendamt nicht ändern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Kevin tot im Kühlschrank liegt. So fürchten mehrere Fachkräfte aus der Bremer Jugendhilfe.
Der Fall "Kevin" hat vor 17 Jahren nicht nur die Region, sondern ganz Deutschland erschüttert. Ein kleiner Junge wird im Kühlschrank aufgefunden, totgeprügelt von seinem suchtkranken Ziehvater. Passiert ist diese schreckliche Tat, obwohl der Fall beim Jugendamt bekannt war. Damals herrschte im Amt jedoch völlige Überlastung. Kevins Amtsvormund hatte mehr als 200 Fälle zu betreuen.
Seitdem hat sich viel geändert – und trotzdem schlagen Amtsvormünder in Bremen wieder Alarm. Sie schaffen ihre Arbeit nicht. Deshalb wird am Dienstagnachmittag in der Bremischen Bürgerschaft über die Situation im Jugendamt debattiert.
Kann es noch einen Fall Kevin geben? Experten sind uneinig
Kann sich ein Fall wie Kevin auch unter heutigen Bedingungen wiederholen? Der Gedanke ist schrecklich, doch viele Fachkräfte, die in der Jugendhilfe arbeiten, sagen: Ja. Eine andere Sicht hat Timon Grönert. Er leitet das Bremer Jugendamt seit Mai 2021.
Ich schließe aus, dass es wieder so einen Fall wie Kevin geben kann. Wir haben nach Kevin sehr viele Prozesse im Jugendamt verändert und auch noch mal die Prozesse festgeschrieben, wie zu arbeiten ist.
Timon Grönert, Leiter des Bremer Jugendamtes
Grönerts Angaben zufolge haben immer mehrere Fachkräfte einen Blick auf den Fall und es sei auch immer gewährleistet, dass bei Kindeswohlgefährungsmeldungen die Leitungen involviert sind.
Aber Grönert räumt ein, dass die Belastung der Mitarbeiter im Jugendamt groß ist. Im Oktober haben Amtsvormünder eine Risikomeldung an die Sozialsenatorin gesendet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien nicht mehr in der Lage, für das Wohl ihrer Mündel zu sorgen – aus Überlastung.
Amtsvormünder fordern neue Obergrenze
Nach Kevins Tod 2006 wurde in der Amtsvormundschaft eine Fallobergrenze eingeführt: Seitdem darf ein Amtsvormund maximal 50 Fälle betreuen und muss diesen mindestens einmal pro Monat sehen. Doch auch das sei noch zu viel, heißt es von den Fachkräften. In einem Brief an die Senatorin für Soziales, Anja Stahmann (Grüne), fordern sie eine neue Obergrenze von 35 Fällen pro Fachkraft.
Nach Kevin neu eingeführt wurde auch eine "Fachliche Weisung", die regelt, was passiert, wenn suchtkranke Eltern ein Kind bekommen. Wollen sie, dass das Kind bei ihnen aufwächst, müssen sie mit dem Jugendamt zusammenarbeiten und Hilfen in Anspruch nehmen.
Schlechte Erreichbarkeit im Jugendamt
Eine dieser Hilfen ist das Programm "Eltern plus" der gemeinnützigen Comeback GmbH. Sie begleiten drogenabhängige oder substituierte Eltern. Im Vordergrund aber steht nicht, dass die Kinder bei den leiblichen Eltern aufwachsen, sondern das Kindeswohl. Ihrer Erfahrung nach ist aber die fachliche Weisung nicht immer bekannt, erzählt Sozialarbeiterin Wiebke Buscher. "Die Umsetzung der 'Fachlichen Weisung' würde immer involvieren, dass wir mit angehört werden, dass wir mit reinkommen. Das passiert nur noch manchmal. Und wenn es passiert, ist es eher so, dass wir das gerade so erleben, dass die Eltern zu uns geschickt werden vom Jugendamt. Aber damit hört dann auch die Kooperation schon auf."
Die Belastung der Case-Manager im Jugendamt kommt auch bei ihnen an. Oft seien Mitarbeiter nicht erreichbar, hinzu komme eine hohe Fluktuation und das heiße wechselnde Ansprechpartner.
Gravierende Folgen für Kinder
Die Folgen für die Kinder sind gravierend: In einigen Fällen werde zu früh, in anderen zu spät in Obhut genommen, sagen Wiebke Buscher und ihre Kollegin Anna Tibert. Dass so uneinheitlich gehandelt wird, macht auch die Arbeit im Programm "Eltern plus" schwieriger, so Tibert. "Das heißt für uns ganz konkret, dass wir den Menschen, die wir betreuen, nicht sagen können: 'Wir gehen jetzt gemeinsam ans Jugendamt, und dann passiert das und das.’ Sondern wir müssen sagen: 'Wir gehen jetzt gemeinsam ans Jugendamt, und dann gucken wir mal, was passiert.' Und die Range, die wir da zu erwarten haben, ist leider mit den Jahren immer größer geworden."
Es gebe Eltern, bei denen eher eine geringe Problematik vorliege und trotzdem würden die Kinder in Obhut genommen werden. Gleichzeitig gebe es andere Eltern, bei denen die Probleme viel größer und komplexer seien und dort passiere fast nichts. "So wenig, dass wir als Drogenberatungsstelle sagen, da können wir nicht mitgehen, das ist uns zu wenig", sagt Tibert.
Unterbringung auf Zeit wird zur Dauerlösung
Werden die Kinder in Obhut genommen, dann kommen sie häufig in Wohngruppen oder zu Pflegefamilien. Ein neues Zuhause auf Zeit, um in dieser Zeit klären zu können, wie es weitergeht: Können die Kinder guten Gewissens zurück in ihre Herkunftsfamilie kehren oder müssen sie dauerhaft woanders untergebracht werden?
Und wenn sie dauerhaft woanders untergebracht werden müssen, kommt Elisabeth Meyer als Übergangspflegemutter ins Spiel. Immer sind es kleine Babys, die zu ihr kommen.
Eigentlich sollen die Kinder nur maximal drei bis sechs Monate bei ihr bleiben, doch die Überforderung im System macht sich auch hier bemerkbar: Die beiden letzten Kinder sind zehn und vierzehn Monate geblieben. Auch wenn der Übergang sanft erfolgt, ist der Wechsel für die Kinder traumatisch, sagt Meyer.
Je früher das stattfindet, umso einfacher geht das. Also es ist ein himmelweiter Unterschied, wie einen ein drei Monate altes Baby anguckt, wenn es geht und mit welchen großen Augen so ein Einjähriges, wenn es da mit dem Köfferchen hier auszieht und guckt und sagt: ‚Was machst du hier mit mir? Was soll das?’ Das ist einfach hart für die Kinder.
Elisabeth Meyer, Übergangspflegemutter
Sie selbst tue sich da schwer mit. Anfangs habe sie geglaubt, dass System funktioniere so. Die Kinder sind drei bis sechs Monate bei ihr und ziehen dann weiter. Doch die Praxis zeige laut Meyer etwas anderes. "Und ich möchte gar nicht ein Rädchen sein, das dazu beiträgt, dass diese Kinder diese Abbrüche mitmachen müssen."
Motivierte Mitarbeiter, aber schlechte Rahmenbedingungen
Trotz der widrigen Umstände: Allen ist es wichtig, zu betonen, dass die allermeisten Mitarbeiter im Jugendamt einen sehr engagierten Job machen. Allein die Bedingungen machen eine gute Arbeit unmöglich. Sie fordern deshalb eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung für das ganze System.
Außerdem, wollen sie vereinfachte Strukturen und, dass unnötige Bürokratie abgeschafft wird. An anderen Stellen müsse die Arbeit durch klare Leitfäden vereinfacht werden.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 24. Januar 2023, 7:10 Uhr