Finn hat einen Gendefekt – so meistert seine Familie den Alltag
Heute ist der Tag der seltenen Erkrankungen. Von so einer ist der kleine Finn aus Schwanewede betroffen. Seine Eltern erzählen, was der Gendefekt SCN8A für die Familie bedeutet.
Epileptische Krampfanfälle mit Atemaussetzern: Für den kleinen Finn und seine Eltern Kai und Melina gehören sie zum Alltag. Der Junge ist eines von weltweit nur rund 800 Kindern, die an dem seltenen Gendefekt leiden. Das SCN8A-Gen verursacht die Anfälle, mehrere hundert davon hat Finn in seinem jungen Leben schon überlebt.
Ich habe gedacht: Er stirbt. Ich habe gedacht: Das war's!
Melina, Mutter von Finn
Finns ersten Anfall werden seine Eltern Kai und Melina niemals vergessen. Es war Weihnachten 2021, die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember. Ein knappes Jahr später erinnert sich Melina genau: "Er hat einfach nicht mehr geatmet. Es war nachts, wir haben den Krankenwagen gerufen und ich habe gedacht: Er stirbt. Ich habe gedacht: Das war's! Du warst jetzt drei Monate Mama… das war's."
Bei Finn arbeitet das SCN8A-Gen nicht so, wie es eigentlich sollte. Das Gen steuert die Natriumkanäle in den Zellmembranen der Gehirnzellen. Es ist dafür verantwortlich, dass ein elektrischer Impuls von einer Nervenzelle zur anderen geleitet wird. Bei normaler Funktion öffnet sich ein sogenanntes Natriumtor und schließt sich sofort danach wieder. "Wenn dieses SCN8A-Gen defekt ist, bleibt der Kanal ziemlich lange geöffnet", erklärt Dr. Birgit Kauffmann, Oberärztin der Neuropädiatrie im Eltern-Kind-Zentrum am Klinikum Bremen-Mitte. "Das führt zu einer Art Dauerimpuls, einer Überfunktion der Gehirnaktivität." Das Kind hat epileptische Krampfanfälle, die auch als "Gewitter im Kopf" beschrieben werden.
Davor kann man sich nicht schützen. Niemand hat Schuld. Die Frau in der Schwangerschaft hat nichts falsch gemacht, auch der Vater hat nichts falsch gemacht. Es ist einfach Schicksal.
Dr. Birgit Kauffmann, Oberärztin der Neuropädiatrie im Eltern-Kind-Zentrum am Klinikum Bremen-Mitte
Der Ablauf einer SCN8A-bedingten Epilepsie bei Kindern ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Von einer milden Entwicklungsverzögerung bis hin zur Schwerstbehinderung ist alles dabei. "Bei der schlimmsten Form sind die Kinder meist zwischen vier und fünf Monaten alt. Sie haben eine sehr schwere Epilepsie, die wir auch nicht gut behandeln können", so Kauffmann. Es gebe aber auch Kinder, die nur eine leichte Veränderung ihrer Intelligenz in Form von Teilleistungsschwächen haben. Das Risiko für einen plötzlichen Tod während eines Krampfanfalls – den sogenannten “Sudden Unexpected Death in Epilepsy Patients”, kurz SUDEP – ist allerdings verhältnismäßig hoch.
Wie oft dieser Gen-Defekt bei Kindern vorkommt, ist noch unklar. "In dem internationalen SCN8A-Register sind zur Zeit 500 Kinder registriert. Man geht davon aus, dass es wahrscheinlich weltweit circa 800 Kinder mit dieser Erkrankung gibt", berichtet Kauffmann. Tendenz steigend, denn durch die genetische Diagnostik wird dieser Gen-Defekt immer häufiger erkannt.
Eine Laune der Natur
Einen Schutz dagegen gibt es aber nicht. Es sei eine Laune der Natur, berichtet Dr. Birgit Kauffmann: "Es ist eine Spontan-Mutation, eine Punkt-Mutation. Davor kann man sich nicht schützen. Niemand hat Schuld. Die Frau in der Schwangerschaft hat nichts falsch gemacht, auch der Vater hat nichts falsch gemacht. Es ist einfach Schicksal."
Mit eben diesem Schicksal zu leben, ist für die Eltern nicht immer leicht. Finn ist durch die vielen Anfälle entwicklungsgestört. Teilweise hatte er sechs bis sieben Krampfanfälle täglich, hat sich dabei schon zweimal die Hüfte und seinen linken Arm gebrochen. "Ich sehe der Tatsache ins Auge: Ich glaube nicht, dass er je laufen lernen wird", sagt Finns Vater Kai. Auch dass er sprechen wird, glaubt er nicht. "Das fehlt mir schon sehr, wenn er schon mal sagen würde: Papa, ich hab´ dich lieb. Das ist schon nicht so einfach, mit der Situation immer fertig zu werden."
Finns Mutter Melina möchte einfach nur wissen, dass es ihrem Sohn gut geht. "Wir haben uns damit abgefunden, dass er in seiner Entwicklung hinterher ist und dass er vermutlich sein Leben lang Unterstützung braucht.“ Das sei immer mal wieder schwierig, sagt sie, müsse man aber akzeptieren. "Wenn es ihm gut geht, ist mir das egal!"
Studien und Epilepsie-Medikamente können Kindern helfen
Eine Mischung von verschiedenen Natriumkanalblockern kann die Krampfanfälle minimieren. Das wurde in jüngsten Studien herausgefunden. "Wir kombinieren diese in einer Art, wie wir es sonst nicht machen würden. Also sehr viel höher, als wir es sonst in der Kinderneurologie durchführen. Das hilft den Kindern dann zum Beispiel von der Intensivstation runterzukommen, nach Hause entlassen zu werden oder einfach Tage und Wochen ohne Krampfanfälle zu haben", sagt Kauffmann. Im kommenden Jahr soll ab Herbst außerdem eine Studie mit sehr potenten, also sehr hochdosierten Natriumkanalblockern durchgeführt werden.
Auch Finn bekommt Medikamente, drei verschiedene Präparate. Die richtige Dosierung ist für seine Eltern Kai und Melina aber immer ein Ausprobieren. "Für Finn war noch nicht die richtige Kombination dabei. Es gibt halt SCN8A-Kinder, bei denen hilft das eine Medikament, bei einem anderen Kind hilft das andere Medikament. Das trifft aber nicht auf alle zu, denn alle Kinder sind verschieden", so Finns Vater Kai. Mutter Melina fügt an: "Es ist wirklich ein Ausprobieren: Nimmt er von Medikament A morgens mehr oder von Medikament B mittags mehr? Sollen wir abends doch noch ein anderes Medikament mit reinnehmen und machen dafür die Dosis mittags niedriger?"
Austausch mit anderen Eltern
Wichtig ist Kai und Melina, dass die Forschung an der Krankheit weiter vorangebracht wird. In Zukunft soll damit anderen betroffenen Kindern geholfen werden. "Diese Krankheit ist so wenig erforscht, wir selbst sind mittlerweile zu echten Experten geworden. Durch das Internet haben wir andere Eltern von SCN8A-Kindern kennengelernt und tauschen Erfahrungen aus, die wir auch an unsere Neurologin weitergeben."
Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, dass er immer wieder zurückkommt.
Melina, Mutter von Finn
Trotz der Medikamente sind die Krampfanfälle bei Finn nicht gänzlich verschwunden. So angespannt wie bei Finns erstem Krampfanfall an Weihnachten vor einem Jahr sind seine Eltern Kai und Melina aber nicht mehr. "Wir können es nicht beeinflussen und nicht beenden, wir können einfach nicht so viel tun außer Abwarten", sagt Melina. "Er hat schon so viele Krämpfe überstanden, ich bin nun entspannter und bin mir eigentlich sicher, dass er dabei nicht stirbt. Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, dass er immer wieder zurückkommt."
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 16. Dezember 2022, 09:35 Uhr