NS-Gegnerin und Frauenrechtlerin: Diese Bremerin sollten Sie kennen
Vor 76 Jahren wurde mit Anna Stiegler die erste Frau in Bremen in das Amt der Vizepräsidentin gewählt. Auch während des NS-Regimes setzte sie sich für die Rechte von Frauen ein.
Es ist das Jahr 1904, Anna Stiegler ist Kinderfräulein, erst seit einem Jahr lebt sie in Bremen-Blumenthal. Ihr Mann Konrad Vogt engagiert sich schon lange in der Arbeiterbewegung und auch ihr politisches Interesse wird geweckt. Doch vor allem ein Erlebnis im September 1904 soll Anna Stieglers Leben verändern: Sie begleitet ihren Mann zum Parteitag der SPD in ein Bremer Casino.
Dort erlebt sie die Arbeiterbewegung hautnah – und will sich nun auch selbst engagieren. Das war Stieglers politisches Aha-Erlebnis, erzählt die Historikerin Renate Meyer-Braun.
Das hat sie politisiert. Und Frauen konnten ja damals vor 1908 noch nicht politisch aktiv werden. Aber sie hat schon eine inoffizielle Frauengruppe in Blumenthal gegründet, eine SPD Frauengruppe.
Historikerin Renate Meyer-Braun
Traum vom Beruf als Lehrerin geplatzt
Stiegler wird am 30. Oktober 1947 als erste Frau nach der Neugründung des Landes Bremen ins Amt der Vizepräsidentin gewählt. Dabei war für sie eigentlich ein ganz anderes Leben vorgesehen. Ab 1881 wächst sie in Mecklenburg auf und lebt dort als Tochter eines Landarbeiters auf einem Gutshof. Sie träumt von einer Ausbildung als Lehrerin. Doch die Familie hat dafür kein Geld – schon früh merkt sie, was soziale Ungleichheit bedeutet. "Sie hat auch erlebt, wie die Standes- und die Klassenunterschiede waren und wie Gutsarbeiter und Gutsarbeiterinnen behandelt wurden. Und das hat sie schon früh auf den Plan gebracht, dass sie also die soziale Ungerechtigkeit bekämpfen wollte", sagt Meyer-Braun.
Ungerechtigkeit erfährt Stiegler in ihren Augen auch, als sie 1904 nach dem Parteitag in Bremen der SPD beitreten möchte. Denn das darf sie nicht — das Reichsvereinsgesetz verbietet es Frauen, Parteien oder politischen Vereinen beizutreten. Erst als das Gesetz 1908 abgeschafft wird, darf sich Anna Stiegler auch offiziell in der Partei engagieren. Kurz darauf wird sie zur zweiten Vorsitzenden ihres Bezirks in Bremen-Nord gewählt. 1919 zieht sie als eine der ersten 18 Frauen zuerst in die verfassungsgebende Bremische Nationalversammlung und später auch in die Bremische Bürgerschaft ein.
Kämpferin für Rechte der Frauen
"Sie hat sich sehr für Frauen eingesetzt, zum Beispiel gegen den Paragraphen 218. Und dann hat sie sich eingesetzt dafür, dass eine Ehe- und Sexualberatungsstelle in Bremen eingeführt wurde, wo Frauen auch über Verhütung aufgeklärt wurden. Also insofern war sie schon durchaus ihrer Zeit in gewisser Weise voraus", weiß die Historikerin Meyer-Braun.
Mit ihrem bemerkenswerten Einsatz für Frauen war Stiegler eine Pionierin in der Politik – denn für Kellnerinnen oder den Schutz von Frauen in Betrieben setzte sich neben ihr damals noch kaum jemand ein. Die Sozialdemokratin sah ihre Lebensaufgabe darin, denen zu helfen, die Hilfe benötigen. Das zeigt sich auch in dem Widerstand, den sie ab 1933 gegen das Nazi-Regime leistete.
"Sie war eine bemerkenswerte und mutige Frau", erzählt Meyer-Braun. "Nach 1933, nach der sogenannten Machtergreifung, haben sie und andere Frauen sich in illegalen Gruppen zusammengetan. Der Parteivorstand war ja verboten, Sozialdemokraten wurden hier auch schon verfolgt. Da hat sie sich also sehr stark gemacht für das Sammeln und Verteilen von Flugblättern, illegalen Flugblättern."
1935 wird ihre Gruppe dann verraten: Es folgen fünf Jahre im Frauenzuchthaus Lübeck – und weitere fünf Jahre im Frauen-KZ Ravensbrück. Doch auch hier verliert Stiegler nicht ihren Mut und kümmert sich um schwächere Frauen. Dafür bekam sie später den Beinamen "Engel von Ravensbrück".
Wir wussten, dass wir für eine Idee litten, die den freien Menschen zum Ziele hat, in einer freien Welt! Dieses Bewusstsein erfüllte uns in der Gefangenschaft vielleicht noch stärker als sonst. Niemand und nichts konnte uns die Überzeugung nehmen, dass unsere gute Sache doch siegen müsse. Sie gab uns die Kraft, nicht nur selbst auszuharren, sondern auch denen zu helfen, die verzagen wollten.
Anna Stiegler
Stiegler war bis zuletzt politisch aktiv
Erst kurz vor Kriegsende wird Stiegler mit vielen anderen auf den sogenannten Todesmarsch geschickt – und überlebt. Eine Bauersfamilie nimmt sie auf und versorgt sie. Bei ihrer Rückkehr nach Bremen erfährt sie, dass ihr Mann in einem anderen KZ gestorben ist. Doch selbst dieser Schicksalsschlag raubt Stiegler nicht ihren Mut.
Schon kurz nach ihrer Rückkehr ist sie wieder politisch aktiv, zieht erneut für die SPD in die Bürgerschaft ein und gründet den überparteilichen Bremer Frauenausschuss. Sie wird zum Vorbild, vor allem für jüngere Frauenrechtlerinnen. Anna Stiegler bleibt bis kurz vor ihrem Tod 1963 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. Und auch heute erinnert man sich an sie als eine der einflussreichsten Frauen in der bremischen Sozialpolitik.
Dieser Artikel ist Teil der Bremen Zwei-Reihe "Frauengeschichten". Ähnliche Artikel können Sie unter diesem Link nachlesen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 3. Juni 2023, 13:40 Uhr