Interview

Bremerhavener Expertin: Analphabetismus ist "sehr schambesetzt"

Analphabetismus: Wo Bremer und Bremerhavener Hilfe bekommen

Bild: dpa | Jens Kalaene

Wer als Erwachsener nicht richtig lesen und schreiben kann, hat oft Probleme im Alltag und Job. Ein Projekt in Bremerhaven-Leherheide hilft Betroffenen – und ist stark nachgefragt.

Im Land Bremen können laut Schätzungen 50.000 Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben, in Bremerhaven allein sind es circa 9.000. Das geht aus der Leo-Studie der Uni Hamburg von 2018 hervor. Texte zu verstehen oder Anträge auszufüllen stellt die Betroffenen im Alltag nicht selten vor große Probleme. Die Bremerhavener Arbeiterwohlfahrt (AWO) will den Betroffenen mit ihrem Angebot "Gesa" helfen, lesen und schreiben zu lernen. Wer die Kurse in Anspruch nimmt, erklärt Kursleiterin Ute Stegemann.

Frau Stegemann, warum gibt es das Projekt überhaupt?

Der Sinn und Zweck dieses Angebots ist es, Menschen, die Probleme beim Lesen und Schreiben haben, zu ermöglichen, dort Lücken zu schließen. Das heißt, sich in dem Bereich der Schriftsprache zu verbessern, um mehr eigenständiges Leben zu führen. Es geht um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, am beruflichen Leben, am kulturellen Leben, die oft durch die geringe Literalität (Anm. d. Red.: Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben), also durch das wenige Lesen und Schreiben, eingeschränkt ist.

Warum kommen Menschen zu den Kursen?

Natürlich kommen Leute, die Probleme haben mit der Schriftsprache, die Probleme haben im Lesen, also Texte zu verstehen, manchmal sogar auch Wörter und Sätze zu verstehen. Es kommen Leute, die Probleme haben im Schreiben, zum Beispiel einen Antrag auszufüllen oder einen Brief zu schreiben. Die Leute, die herkommen, haben aber auch eine Motivation, herzukommen. Das heißt, sie müssen auch an einem Wendepunkt im Leben sein oder einen Impuls haben, wo sie sagen, jetzt möchte ich als Erwachsener noch mal etwas lernen, von dem viele denken, das muss man können als Erwachsener.

Eine Frau mit langen blonden Haaren vor einem Tisch, auf dem Schreibutensilien liegen
Leitet die Kurse in Bremerhaven-Leherheide: Ute Stegemann. Bild: Radio Bremen

Wie unterscheiden sich die Lernstände der Teilnehmerinnen und Teilnehmer?

Wir beziehen uns da immer auf die Leo-Studie der Universität Hamburg von 2018. Da wurde erhoben, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind. 6,2 Millionen ist da die Zahl. Das wird aber noch mal ein bisschen genauer unterschieden in Alpha-Levels, es gibt Level 1 bis 3. Alpha-Level 1 bedeutet, dass die Teilnehmenden manchmal einzelne Wörter, aber eher die einzelnen Laute und Buchstaben kennen. Bei Alpha-Level 2 ist es dann schon so, dass Wörter gut gelesen werden können, aber keine vollständigen Sätze. Und bei Alpha-Level 3 erreicht man dann sozusagen die Satzebene, aber noch nicht die Textebene. Das heißt, komplexe Texte werden auch bei dem Level nicht verstanden.

Aus welchen Elementen besteht so ein Kurs?

Wir kommen zu Beginn gemeinsam an, die Teilnehmenden können etwas über sich erzählen. Manchmal liegt auch ein akutes Problem an, dann wird erstmal ein bisschen berichtet. Dafür schaffen wir sonst auch Raum nach dem Kurs. Dann haben wir einen gemeinsamen Einstieg. Das heißt, gemeinsam mit der Gruppe wird an einem bestimmten Thema gearbeitet. Das kann auch etwas Tagesaktuelles sein. Wir hatten zum Beispiel die EU-Wahl kürzlich zum Thema genommen. Das wird dann immer je nach den Lernständen gerecht aufbereitet.

Nach diesem gemeinsamen Einstieg gehen die Teilnehmer in die individuelle Lernbegleitung. Wir arbeiten binnendifferenziert: Jeder Teilnehmer oder Teilnehmerin hat unterschiedliches Material. Die Lerninhalte sind natürlich auch an die Lebenswelten der Teilnehmer angepasst. Das heißt, ich würde nicht einem Teilnehmer einen Text über Physik raus suchen, wenn er sich gar nicht dafür interessiert. (...) Wir sind immer im Austausch mit den Teilnehmenden, was ihre Lernwünsche sind, weil wir nicht vorgeben, was sie lernen, sondern sie bestimmen das.

Wie wichtig ist das Projekt?

Das Projekt ist sehr wertvoll für die Menschen, und der Bedarf ist da, das sehen wir. Es ist etwas schwierig, an die Zielgruppe zu kommen, weil das Problem sehr schambesetzt ist. Nicht rechnen zu können, ist beispielsweise nicht so schambesetzt. Da wird dann schnell gesagt: "Ach, das kann ich auch nicht, dann nimm den Taschenrechner." Insofern ist der Bedarf zwar da, aber es gibt auch einen großen Bedarf an Sensibilisierung in der Gesamtbevölkerung, um die Scham davor zu nehmen –weil jeder hat irgendwas, das er nicht kann.

Wer kommt zu den Kursen?

Man muss sagen, es ist eine sehr heterogene Gruppe. Das war auch das Ergebnis der Leo-Studie. Wir haben hier Teilnehmende von 19 bis 64 Jahren. Ich glaube, eine ist sogar noch etwas älter. Die Hauptgruppe liegt jetzt aktuell sogar bei jüngeren Teilnehmenden, die aus der Schule kommen, manchmal keinen Abschluss haben oder keine Ausbildung. Aber auch in der Altersgruppe ab 45 ist auch wieder ein Schwerpunkt zu sehen.

Wir haben Teilnehmende, die in Arbeit sind. In der Regel sind das oft Minijobs, geringfügig Beschäftigte oder nicht so qualifizierte Tätigkeiten. Aber es gibt natürlich auch Teilnehmende, die nicht in Arbeit sind und sich eine Arbeit wünschen. Der Wunsch ist bei fast allen Teilnehmenden, die keine Arbeit haben, sehr groß, auch der Wunsch nach Qualifizierung.

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Bild: Imago | biky

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 14. Juli 2024, 19:30 Uhr