Zugunglück von Eschede: "Ich kann bis heute darüber weinen"
Vor 25 Jahren entgleist der ICE 884 nach Hamburg bei Eschede. 101 Menschen sterben. Ein Bremer Pilot, Helfer und Betroffene erinnern sich an die Tragödie.
Es ist der schwerste Zugunfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Bei dem Unglück von Eschede am 3. Juni 1998 kommen 101 Menschen ums Leben, mehr als 100 werden verletzt. Im ICE 884, der sich kurz vor 11 Uhr in der Lüneburger Heide mit knapp 200 Kilometern pro Stunde auf dem Weg nach Hamburg befindet, bricht ein metallischer Radreifen ab. Kurz danach reißt das gebrochene Teil einen Radlenker vom Gleis und lässt den Zug entgleisen.
Ein Waggon landet auf den Nebengleisen und prallt gegen die Straßenbrücke bei Eschede. Diese stürzt auf den Zug ab, die Trümmer versperren den Weg für den restlichen Teil des Fahrzeugs, der sich wie eine Ziehharmonika zusammenfaltet. Ein Hubschrauberpilot, der aus Bremen zum Unfallort fliegt, Einsatzleiter, Betroffene und Angehörige erinnern sich an den schicksalhaften Tag und seine Folgen.
Rettungspilot: Man stellt seine Gefühle nach hinten an
Rüdiger Engler ist an jenem Mittwoch vor 25 Jahren bei der Rettungsleitstelle in Bremen im Dienst. Wie an jedem Arbeitstag wartet der damals 42-jährige Pilot auf Notfall-Meldungen, um den ADAC-Hubschrauber Christoph 6 zu starten. Dann kommt die Nachricht: 'Ein Fahrzeug ist unter einer Brücke'. Als Engler den Abflug vorbereitet und die Rotorblätter den Hubschrauber in die Luft heben, ahnt der Pilot jedoch noch nicht, was damit gemeint ist.
Erst als wir den Zug dort sahen, der sich wie eine Ziehharmonika vor der Brücke aufgereiht hatte, erst dann wussten wir, was für eine Katastrophe uns jetzt erwartet.
Rüdiger Engler, Rettungspilot
Wie schrecklich, wie unfassbar, denkt selbst der routinierte Rettungspilot. Ausbildung und Erfahrung hätten ihm geholfen, einen kühlen Kopf zu bewahren, sagt er heute. "Man funktioniert, man weiß, was man zu tun hat. Die Gedanken und die Gefühle, die stellt man nach hinten an."
Etwa 45 Minuten sind seit dem Unfall vergangen. Engler landet die Maschine und versucht, den Einsatz der Hubschrauber zu koordinieren, die nach und nach den Unfallort erreichen. Ein sechsjähriges Kind muss er dann nach Bremen fliegen. Der Junge ist verletzt, für Engler ein stark emotionaler Moment: Sein ältester Sohn ist im selben Alter. In Bremen versucht er, den Vater zu finden, der in Süddeutschland lebt. Ohne Erfolg.
Etwa drei Stunden hat der Einsatz gedauert. Engler muss dann gleich wieder fliegen, zu einem Unfall in einer Baugrube. Zu Hause bricht aber der Damm, hinter den Engler seine Emotionen verbannt hat. Er weint in den Armen seiner Frau.
Das ist auch gut so, dass wir Menschen sind und bleiben. Ich kann bis heute darüber weinen, was ich da gesehen habe.
Rüdiger Engler, Rettungspilot beim Unglück von Eschede
"Dieser Kinderschuh, an dem ich immer wieder vorbeigelaufen bin, der einfach so auf den Gleisen lag. Das hat sich so bei mir eingebrannt." Trotzdem trägt Engler keine langfristigen, psychologischen Folgen vom Einsatz – anders als einige seiner Kollegen. Der Einsatz hat mich Jahre lang begleitet, bis zum heutigen Tag. Trotzdem war ich stark genug, um mich auf den nächsten Einsatz zu konzentrieren.
Angehöriger: Es herrschte Chaos
Engler hat dann nicht mehr den Kontakt zu der Familie gesucht, deren Sohn er gerettet hat. Doch der Vater, den er versuchte ausfindig zu machen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit Sven Seibt. Sein sechsjähriger Sohn, seine Ehefrau und die siebenjährige Tochter sind früh am Morgen des 3. Juni am Münchener Hauptbahnhof in den ICE 884 eingestiegen.
Er hat sie aus Erding zum Bahnhof gefahren, die Familie will auf Kur in den Norden. Die Kinder haben Atemwegprobleme, sie freuen sich aber schon auf den Urlaub am Meer. Sven Seibt kehrt dann zurück nach Hause. Wenige Stunden später ist er gerade dabei, die Satellitenantenne des Fernsehers einzurichten, als er die Nachricht eines schweren Zugunfalls sieht. Er rechnet nach. Es könnte der Zug sein, in dem seine Familie sitzt. Stundenlang versucht er, bei der Bahn durchzukommen, doch die Telefonleitungen sind überlastet.
Er informiert die Schwiegereltern. Endlich antwortet ein Mitarbeiter der Bahn, doch Seibt kann nur herausfinden, dass es sich tatsächlich um den Zug handelt. Er ruft seine Frau auf dem Handy an, niemand geht ran. Am nächsten Tag steigt er selbst in einen Zug und fährt in Richtung Unfallort. In Hannover erreichen ihn unterschiedliche Meldungen. Einmal heißt es, man habe seine Tochter gefunden. Dann doch nicht, es handelt sich eigentlich um seine Frau. "Es war ein ziemliches Chaos.“ Am Freitag bekommt er dann die Nachricht, dass sein Sohn mit Verletzungen in einem Bremer Krankenhaus liegt. Erst in den nächsten Tagen teilt man ihm mit, dass seine siebenjährige Tochter das Unglück nicht überlebt hat.
Bei der Ehefrau bleiben langfristige körperliche Schäden, bei dem Sohn sind die Spuren wahrscheinlich eher seelischer Natur. Das Kind lag auf Leichen, bis die Feuerwehr den Wagen aufschneiden und ihn befreien konnte, sagen ihm später die Retter. Seibt selbst will keine psychologische Betreuung in Anspruch nehmen, die Zeit hat er auch nicht, erzählt er heute: Er muss sich um seine Frau und seinen Sohn kümmern. Das Geschehen will er nicht als Unfall bezeichnen, der Zug hätte nicht auf die Gleise dürfen, findet er. Er bedankt sich aber beim medizinischen Personal, das seinen Sohn in Bremen behandelt hat.
Es war ganz toll, was sie geleistet haben. Sie haben ihm sogar sein Lieblingsessen vom Bayerischen Hof geholt.
Sven Seibt, Angehöriger
Heute noch sucht der 60-jährige Bayer nach einer Dame, die das Kind besuchte, als er noch nicht bei ihm war, und mit dem Kleinen spielte. "Leider habe ich keine Telefonnummer von ihr, es ging alles sehr schnell." Seibt sagt, er würde sich aber freuen, sie wieder zu treffen.
Überlebender: Die Wut ist heute noch größer
An den vorsommerlichen Tag erinnert sich Udo Bauch noch ganz gut. An das Wetter, das in Fulda so herrlich war. An die Tagung, die ihn in Hamburg erwartete, auf die Arbeit, die er im Zug vorbereiten wollte. Wagen 11, Einzelabteil. Ruhige Fahrt. Bauch sitzt hinter seinem Laptop, ist in Gedanken vertieft, als ein massiver Schlag im Waggon ihn aufhorchen lässt. Ein Schlag, wie er ihn noch nie im Leben gehört hat.
Dann geht alles sehr schnell. Der Wagen schleudert nach links und rechts, der Industriekaufmann wird zu Boden geworfen. Dann kommen die starken Schmerzen am Körper, dann die Todesängste. Bauchs Leben zieht wie ein Film vor seinen Augen. Bilder seiner Kindheit, seiner Frau, seiner Kinder. Eine knappe Stunde vergeht. Bauch hört und riecht nichts um sich herum, nimmt nichts mehr bewusst wahr außer sich selbst. "Ich habe geschrien, gefleht, gerufen. Bis ich irgendwann die Stimme meines Retters gehört haben."
Eine Einsatzkraft fragt nach seinem Namen, sagt ihm, alles wird gut, er werde ihn rausholen. Doch die Fensterscheibe gibt nicht nach. Es ist ein Kampf mit dem Tod, um jede einzelne Sekunde. Mit einem scharfen Beil bohrt die Feuerwehr dann ein Loch in das Fahrzeug. Danach wird alles trüb, er bekommt Medikamente, die ihn sedieren, den restlichen Teil der Rettung bekommt er nicht mehr mit. Er wird nach Hannover geflogen und in künstliches Koma versetzt. Sechs Operationen muss er sich unterziehen, vier Wochen liegt er auf der Intensivstation. Die Liste seiner Verletzungen ist lang: Schädelbruch, Hirnblutung, Unterkieferbruch, Jochbein- und Oberschenkelfraktur, Quetschwunden.
Bis heute trägt er die Narben: Er hat eine Teillähmung auf der linken Körperseite und ist dadurch schwerbehindert. Auch psychologisch muss der 55-Jährige immer noch mit Angstzuständen kämpfen. Am Samstag erscheint sein zweites Buch über die Tragödie und seinen Umgang mit der Behinderung und den Institutionen. Je mehr die Zeit vergeht, desto verärgerter und trauriger fühle er sich über den Unfall. Er hätte nicht passieren dürfen, sagt Bauch. Auch die Entschädigungszahlungen seien viel zu gering gewesen und die Unterstützung seitens der Bahn schwach, sagt er. Um jeden Euro habe man kämpfen und alles belegen müssen – eine zusätzliche Belastung.
Einsatzleiter: Das Schwierigste war, an die Eingeklemmten zu kommen
Als Gerd Bakeberg seine Schicht als ehrenamtliche Kreisbrandmeister in Celle eintritt, ahnt er noch nicht, was an diesem Tag passieren wird. Um 11:03 Uhr bekommt er über Funk die Meldung des Zugunglücks. Das, was er dort sieht, könne man "gar nicht fassen". Es herrscht Stille, unterbrochen durch die Rufe der Einsatzkräfte, "Kommt her, ich habe hier noch einen, der noch lebt“. Die Unfallstelle ist etwa 700 Meter lang, Bakeberg entscheidet, sie in zwei Einsatzabschnitte zu teilen.
Schwierig bei dem Einsatz ist, an die Verletzten in den Wagen heranzukommen. Denn die Seitenscheiben sind schwer durchzubrechen. "Man hat sich dann von hinten durch die Waggons vorgearbeitet, Sitzbänke zum Teil herausgeschnitten, um sich nach und nach vorzuarbeiten." Mit einem solchen Unfall bei einem ICE hat damals wohl niemand gerechnet. Auch die Brücke muss in Teile zerlegt werden, um den darunterliegenden Wagen zu befreien.
Als Koordinator hat Bakeberg nicht die Bilder gesehen, die die Einsatzkräfte vor Augen hatten. Die Leichen, die Verletzten und Körperteile. Der tagelange Einsatz, der sich bis Samstag um 6:42 Uhr hinzieht, verlangt jedoch manchen Helfern viel ab. Danach zeigt sich deutlich der Bedarf nach psychologischer Betreuung der Menschen im Einsatz.
Für die psychosoziale Notfallversorgung ist Eschede die Geburtsstunde.
Gerd Bakeberg, Einsatzleiter
Bakeberg haben ebenfalls die vielen Konferenzen und Seminare geholfen, bei denen er über das Geschehen referiert hat. "Das war auch eine Art Verarbeitung." Sonst habe sich sein Blick auf den Unfall mit den Jahren nicht verändert. Nur wünsche er sich, dass mit dem 25. Jahrestag die Großveranstaltungen enden. Damit man endlich zur Ruhe kommen kann.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 3. Juni 2023, 19:30 Uhr