Interview
Wieso das Abnehmen so schwer ist – obwohl wir wissen, wie es geht
Viele Bremer mit Übergewicht wissen genau, wie sie abnehmen könnten. Trotzdem schaffen sie es nicht. Ein Bremer Psychiater erklärt, was dahinter steckt und was helfen könnte.
An Infos rund um eine gesunde Ernährung mangelt es in unserer Gesellschaft nicht. Erst vorige Woche etwa richtete der Verband für Ernährung und Diätetik zum 26. Mal den "Tag der gesunden Ernährung" aus. Mediziner, Ernährungswissenschaftler und Diätassistenten erklärten wieder einmal in vielen Medien – auch bei buten un binnen – wie man sich ernähren sollte und wie besser nicht.
Dennoch ernähren sich weiterhin viele Menschen wider besseres Wissen falsch und leiden an den Folgen, etwa an Übergewicht. Der Psychiater Peter Bagus vom Klinikum Bremen-Ost erklärt, wieso das Abnehmen auch dann sehr schwer ist, wenn man weiß, wie es geht oder, besser gesagt, ginge.
Herr Bagus, wieso ist es schwer abzunehmen, selbst wenn man genau weiß, wie man sich eigentlich verhalten müsste, um dieses Ziel zu erreichen?
Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zum einen die schlichte Gewohnheit. Man ist in einem bestimmten Rhythmus und ist es einfach gewohnt, sich immer wieder so oder so zu ernähren. Dann kommt oft hinzu, dass man zwar weiß, was eine gute Ernährung wäre. Doch die ist nicht greifbar. Also passt man sich ernährungsmäßig dem Arbeitsalltag an.
Fast Food ist schnell verfügbar und macht es den Menschen leicht, während die eigentlich gesündere Ernährung oft ernsthaft vorbereitet werden müsste. Das ist heutzutage ein ganz großer Faktor. Denn es gibt viele Menschen, die in ihrem Lebensalltag erheblich unter Druck stehen: unter Zeitdruck und/oder Leistungsdruck. Da kippt das Thema "gesunde Ernährung" leicht hinten rüber. Stressfaktoren befördern zudem unregelmäßige Nahrungsaufnahme und führen zu mangelnder erholsamer Bewegung und auch zu einem schädlichen Schlafverhalten mit häufigem Schlafmangel, was wiederum den Stress erhöht.
Bei anderen steht die Langeweile im Vordergrund. Sie essen aus Frust über ihre Lebenssituation. Essen steht in unserer Gesellschaft permanent zur Verfügung und dient daher oft als kleiner Seelentröster. Schon greift man zu.
Aber warum ist es so schwer, sich umzustellen und sich beim Lebensmitteleinkauf und bei den Mahlzeiten zu beherrschen?
Auch dafür gibt es gute Gründe. Für viele Menschen hat Essen eine tröstende beziehungsweise eine Belohnungsfunktion. Man will sich etwas Gutes leisten, um sich zu belohnen. Und weil Süßigkeiten heute vergleichsweise günstig sind, liegt es nahe, sich damit zu belohnen. Derartige Verhaltensmuster haben sich teilweise über Generationen festgesetzt. Man tut sich etwas Gutes, wenn man sich etwas Süßes gönnt – oder auch ein Bier zum Feierabend.
Beim Einkauf spielt natürlich auch die Werbung eine wichtige Rolle. Gerade Kinder werden schon sehr früh dazu animiert, bestimmte Süßigkeiten zu kaufen beziehungsweise ihre Eltern dazu zu drängen. Natürlich nicht einmalig, sondern immer wieder.
Sie haben den Alkohol schon angesprochen. Inwiefern unterscheidet sich die Belohnung mit Alkohol von der durch das Essen?
Beim Alkohol stellt sich – auch abhängig von bestimmten genetischen Faktoren – früher oder später ein Suchtverhalten ein mit immer gesteigertem Verlangen und zunehmend schwerwiegenden Entzugserscheinungen bei Verzicht.. Es kann eine stoffgebundene Abhängigkeit entstehen. Das unterscheidet Suchtmittel von sonstigen Nahrungsmitteln.
Aber: Durch schädliches Essverhalten und Übergewicht wird die Entstehung anderer Erkrankungen stark begünstigt. Diabetes mellitus sei hier ebenso genannt wie erhöhter Blutdruck und weitere Erkrankungen des Herz- Kreislaufsystems. Es kommt zu einem Zusammenspiel verschiedener körperlicher und auch psychischer Faktoren, die das Krankheitsrisiko erheblich erhöhen. Auch Depressionen können vermehrt entstehen. Der Preis für eine schlechte Ernährung und langfristig für Übergewicht ist also sehr hoch, wenngleich das noch einmal etwas anderes ist als eine stoffgebundene Abhängigkeit wie beim Alkohol.
Gewohnheit hin oder her: Wie kommen die Menschen auf die Idee, dass sie sich mit Essen belohnen und auch mit Essen Probleme kompensieren könnten?
Das ist fest im kollektiven Gedächtnis der Menschen verankert, in mehreren Kulturen. Das gilt für berauschende Getränke ebenso wie für verschiedene Nahrungsmittel. Allerdings waren diese Nahrungsmittel, beispielsweise Schokolade, früher etwas Besonderes. Heute sind solche Produkte für fast jedermann erschwinglich und außerdem ständig verfügbar. Dadurch lassen sie sich überhaupt erst so bequem in den Alltag integrieren. Und darin liegt ein großes Problem.
Ein ganz wichtiger Aspekt, um bei dem Beispiel der Schokolade zu bleiben, kommt noch hinzu: Wenn man so etwas isst, fühlt man sich kurzzeitig tatsächlich besser, vielleicht sogar fitter. Dieser Eindruck verführt dazu, die langfristigen Auswirkungen außer Acht zu lassen.
Ab wann würden Sie in diesem Zusammenhang von einer krankhaften Essstörung oder von einer Sucht sprechen, was ist dagegen noch "normal"?
Wenn bei häufigerem Alkoholkonsum das Verlangen nach erneutem und von der Dosis noch zunehmendem Konsum prägend wird für den Alltag und wenn womöglich bei Verzicht innere Unruhe und schwitzige Hände auftreten, dann ist eine Grenze klar überschritten und ein Krankheitsprozess entstanden mit der Notwendigkeit ärztlicher und therapeutischer Hilfe.
Wenn permanent zu viel gegessen und zu ungesund gegessen wird, die Bewegung vernachlässigt wird und das Gewicht weiter steigt, dann würde ich von einem krankhaften Essverhalten sprechen. Die Betroffenen merken irgendwann, dass es ihnen nicht mehr gut tut. Sie nehmen zu, werden träge beziehungsweise schneller erschöpft, bewegen sich weniger – machen aber trotzdem weiter wie bisher, weil die Umstellung so schwierig ist.
Wer es an dieser Stelle dann schafft, wieder geregelt die Mahlzeiten einzunehmen, sich wieder mehr zu bewegen, vielleicht sogar einen Ausdauersport zu betreiben sowie Stress zu reduzieren und auf ausreichend Schlaf zu achten, der bekommt die Kurve und kommt weg von einem krankhaften Essverhalten. Wem dies nicht gelingt, der hat ein hohes Risiko für körperliche und auch seelische Folgeerkrankungen. Daher mein Rat: Wer von sich merkt, dass er zu viel isst und immer weiter zunimmt, der sollte darüber mit seinem Hausarzt sprechen. Denn er steht an einer Schwelle, an der es gefährlich werden könnte.
Weshalb empfehlen Sie Übergewichtigen speziell Ausdauersport und nicht irgendeinen Sport?
Man weiß, dass es gesund ist, wenn man sich jeden Tag wenigstens eine Stunde bewegt. Das lässt sich mit Ausdauersport am leichtesten erfüllen. Das kann Schwimmen sein, aber auch Wandern, Radfahren oder leichtes Joggen. Es geht nicht um Leistung. Auch intensives Spazierengehen reicht. Entscheidend ist die Regelhaftigkeit. Regelmäßige Bewegung ist gut für den Stoffwechsel und beugt auch depressiven Erkrankungen vor. Diese gehen häufig mit Essstörungen einher. So gesehen sind übergewichtige Menschen, die sich täglich eine Stunde bewegen, schon auf einem guten Weg. Auch wenn die Bewegung nur ein Faktor für eine gesundheitliche Stabilisierung ist.
Welche Faktoren erscheinen Ihnen aus psychologischer Sicht noch wichtig?
Ein weiterer wichtiger Faktor ist ein regelmäßiges Essverhalten, möglichst mit anderen Menschen zusammen. Der kommunikative Faktor ist aus der psychosomatischen Perspektive ganz wichtig für Gesundheit insgesamt. Für gemeinsame Mahlzeiten muss man sich zudem verabreden. Das unterstützt die Regelhaftigkeit der Abläufe. Hinzu kommt: Wer gemeinsam mit anderen speist, hält sich auch eher an Konventionen wie Portionsgrößen. Gleichzeitig wirkt man auch durch Kontakt und Austausch mit anderen Menschen Schäden durch krankhaften Stress und auch depressiven Entwicklungen entgegen. Das gemeinsame Speisen erfüllt also gleich mehrere Funktionen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Morgen, 7. März 2023, 6:10 Uhr