Warum dieser Bremer seine Geschichte auf der Haut trägt
Timo ist gern ein bunter Vogel, sein erstes Tattoo gab’s zum 18. Geburtstag. Kunst war für ihn schon immer ein Zufluchtsort, vor allem in seiner Jugend im Heim, die von Gewalt geprägt war.
Selten haben Menschen auch da Tattoos, wo sie jeder sehen kann. Aber Timo* ist gerne ein bunter Vogel, findet es schön, hat seine Tattoos in erster Linie für sich, auch wenn andere sie wahrnehmen müssen. Gleichzeitig findet er es doof, wenn Menschen auch privat nur was mit ihm zu tun haben wollen, weil er von Beruf Tätowierer ist. Alles schon vorgekommen, sagt der Bremer.
In seiner rechten Handfläche steht "Hi" und in der linken Handfläche "Bye" – früher folgte er bei seinen Tattoos einem Ying-Yang-Konzept – die eine Seite positiv, die andere negativ. Das hat sich inzwischen aber vermischt, sagt er. Zu jedem Tattoo gibt es eine Geschichte, die Ansprüche sind gestiegen, an seiner Kehle leuchtet eine bunte Totenkopf-Motte. Auch mit Bedeutung – ab ins Licht, Timo hat Angst im Dunkeln.
Eine Kindheit im Chaos
Seine Kindheit beschreibt er als Riesen-Chaos, ein ewiges Hin und Her. Warum es zwischen seinen Eltern nicht geklappt hat – wahrscheinlich hing es mit dem Alkoholkonsum und den Gewalt-Eskapaden seines Vaters zusammen, sagt Timo heute. Seine Mutter redet nicht darüber, zu seinem Vater hat er inzwischen keinen Kontakt mehr.
Woran er sich erinnert: Dass er vor einem Richter stand und sagen durfte, wo er lieber wohnen möchte. Doch beim Vater klappt es nicht, bei der Mutter klappt es nicht, bei der Schwester klappt es nicht. Dann kommt er ins Heim beim Vater in Nordrhein-Westfalen, der sucht ihn allerdings auf, Alkohol und Aggression spielen eine Rolle. Timo kommt in Bremen ins Heim.
Schlimme Erlebnisse im Heim
Die Gruppe wird zugemacht, er kommt in eine andere 24-Stunden-Betreuung, erlebt dort Dinge durch seinen jugendlichen Mitbewohner, auf die er lieber verzichtet hätte. Andere in der Gruppe haben ebenfalls ihr Päckchen zu tragen und sind damit so umgegangen, dass es auf Kosten von Timo ging. Stichwort Mobbing, aber auch Gewalt, berichtet Timo, als die Mitbewohner auf einem Drogentrip waren.
"Wenn die was genommen haben, Kokain oder so, hatten die so einen Höhenflug, haben die Tür eingetreten und mich in 'ne Ecke gedrängt und so was. Ich konnte einfach nichts machen. Irgendwelche Psychospielchen gespielt. Mir Angst gemacht, aber dann auch wieder gesagt: Nein, du kannst mir doch vertrauen und ich mach das doch nicht, und dann doch wieder mit dem Messer rumgefuchtelt, vor mir.“
Timo hat seine Betreuerin auf Kurzwahl, ruft sie an, sie holt ihn da raus. Es dauert, bis er aus dem System im wahrsten Sinne des Wortes rauswächst, mit 18 kommt er langsam auf die eigenen Beine. Heilfroh ist er, dass er immer sauber geblieben ist, das Glück hatte, nicht in irgendeinen Sumpf aus Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder gar Gewalt und Kriminalität abgerutscht ist.
Musik und Kunst als Realitätsflucht
Musik und Kunst waren und sind für ihn eine willkommene Realitätsflucht. Vieles verbindet er mit Musik, hört Tracks von früher und hat sich wieder ein Freestyle-BMX gekauft, will dieses Jahr ein bisschen Sport machen. Im Moment macht Timo auch viel Musik, täglich Klavier und Schlagzeug. Gitarre etwas seltener. Er bekommt aber auch professionelle Hilfe von Therapeuten, schafft es ohne Medikamente, arbeitet mit langem Atem und Ruhe an seiner posttraumatischen Belastungsstörung.
Ich hab das hinter mir gelassen und einfach abgehakt, diesen Abschnitt. Klar ist er immer noch ein Teil von mir, aber beherrscht mich nicht mehr so wie früher.
Timo im Podcast "Eine Stunde reden"
Diesen Sommer ist es soweit: Mit "Das Kollektiv" hat Timo einen Mix aus Kunstgalerie und Co-Working-Space für Tätowiererinnen und Tätowierer an den Start gebracht, mitten in Bremen, in der Straße "Am Schwarzen Meer". Er ist schon lange selbstständiger Tätowierer, realisiert mit dem Laden eine Vision. Ihm liegen Custom-Designs am Herzen, also für den Kunden entworfene Motive. Sein Stil ist neotraditional und Animée-Motive. "Dicke Linien, klare Flächen, wenige Details – das macht traditionelle Tattoo-Motive aus. Neotraditional hat dicke Linien, klare Flächen, viele Details, Farbübergänge."
Sein erstes Tattoo ist seine "Lebenslinie"
Zeichnen war seit jeher sein Hobby. Es wurde zu seinem Beruf, nachdem er zunächst im Rettungsdienst, in der Notaufnahme und beim Beerdigungsinstitut gearbeitet hat. Passend dazu ist sein erstes Tattoo eine Vektorgrafik, wie sie auf dem Bildschirm eines Elektrokardiogramms (EKG) angezeigt wird. Timo nennt sie "Lebenslinie", die für seine Existenz steht, mit Höhen und Tiefen.
"Das Ende ist offen. Es geht weiter und ich leb' weiter, oder sollte weiterleben." Tatsächlich sind es einzelne Erfahrungen während seiner beruflichen Stationen, die ihn dankbar machen und in dunklen Momenten zum Leben ermutigen. Denn er hat dabei auch Menschen vorgefunden, die eine andere Entscheidung getroffen hatten. Auch das Schriftzeichen unter seinem linken Auge steht für ihn für die Lebensenergie. Als Erinnerung, weiterzumachen.
Bunter Vogel mit spießigem Traum
Timo hat mehrere große Lebensziele. Er wünscht sich beispielsweise eine eigene kleine Familie. Das Herz ist auf jeden Fall sein Symbol, erzählt er. LOVE hat er auf die Finger seiner rechten Hand tätowiert.
Eine Frau, Kinder, vielleicht ein Hund. Ein Haus. Also wirklich so richtig spießig. Liebe ist da natürlich ein Riesen-Thema.
Timo im Podcast "Eine Stunde reden"
Der Wunsch entspringt einer Sehnsucht aus Kindertagen: Weil Timo kein normales Elternhaus hat, sehnt er sich nach Liebe. Der Wunsch wird größer, wächst, entwickelt sich zum Lebensziel, erzählt der 28-jährige. Ein Klischee, eine Illusion oder Fata Morgana ist das seinem Empfinden nach nicht. "Ich glaube, das gibt’s. Sieht man halt auch bei einigen, denk' ich. Es gibt ja so viele funktionierende Ehen, egal, was die durchgemacht haben. Es kann funktionieren. Das ist so meine Hoffnung, dass es bei mir vielleicht auch klappt."
* Timo möchte seinen Nachnamen nicht veröffentlichen, Anmerkung der Redaktion
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Podcast "Eine Stunde reden"