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"Wie ein Inferno": Vor 10 Jahren erschüttert eine Explosion Ritterhude

Wie es den Menschen in Ritterhude 10 Jahre nach der Explosion geht

Bild: dpa | Ingo Wagner

Trotz zahlreicher Warnungen explodiert 2014 eine Chemieentsorgungsanlage in Ritterhude. Was damals geschah und wie Ritterhuder heute auf das Unglück schauen.

Am 9. September 2014 erleuchten Flammen den Himmel in Ritterhude. Um kurz vor 21 Uhr erschüttert eine Explosion den Ort. Eine Chemie-Entsorgungsanlage brennt lichterloh, sie steht mitten in einem Wohngebiet.

Durch die Detonation und den Brand kommt ein Mitarbeiter der Firma ums Leben, zwei weitere Menschen werden schwer verletzt. Die Druckwelle beschädigt rund 40 Häuser in direkter Nachbarschaft. Schäden in Millionenhöhe. Zuvor hatten Anwohner immer wieder vor einem Unglück gewarnt, den Standort der Firma Organo Fluid umgeben von Wohnhäusern kritisiert.

Wie erlebten die Anwohner den Unglücksabend?

Uwe Vanester wohnt mit seiner Frau in einer Doppelhaushälfte direkt gegenüber der Anlage, als das Unglück geschieht. An diesem Abend hätten sich beide bereits schlafen gelegt, erzählt Vanester im Gespräch mit buten un binnen.

Obwohl das Schlafzimmer der beiden direkt zum Firmengelände zeigt, bleiben dem Paar größere Verletzungen erspart. "Wir haben Glück gehabt, dass nichts Schlimmeres passiert ist", sagt Vanester.

Das Schlafzimmer liegt in einem Erker. Von fünf Balken waren drei gebrochen. Wir hätten auch sterben können.

Uwe Vanester, Anwohner der Chemieentsorgungsanlage

Auch Karl-Friedrich Brust, ein weiterer Nachbar, betont, dass an diesem Abend ein Schutzengel unterwegs gewesen sei. "Es hätte durch die Dimensionen der Explosion viel mehr passieren können", erklärt der Anwohner. Bei ihm ist es der 90-jährige Vater, der nur mit Glück schlimmeren Verletzungen entgeht. "Er hatte sich kurz vor der Explosion hingelegt. Da wo seine Schuhe standen, hing nachher ein kaputter Fensterrahmen. Allein die Bleche und Scheiben, die herumflogen. Das hatte ein bisschen was von Inferno."

Wie ging es nach dem Unglück weiter?

Die ganze Nacht vom 9. auf den 10. September 2014 bleibt die Freiwillige Feuerwehr Ritterhude im Einsatz. Aus umliegenden Gemeinden rückt Verstärkung an, insgesamt seien 400 Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten im Einsatz gewesen, berichtet buten un binnen damals. Die umliegenden Wohnhäuser sind teils vorübergehend nicht mehr bewohnbar. Die Explosion reißt Türen aus den Angeln, verwüstet Dächer, lässt Fenster und Glasfronten zersplittern. Einige Anwohner – wie Uwe Vanester – können monatelang nicht in ihrem Zuhause wohnen.

Schnell werden Vorwürfe gegen Gewerbeaufsicht und den Firmenbetreiber von Organo Fluid laut: Sicherheitsstandards seien vernachlässigt worden, Behörden hätten wohlwollend weggeschaut. Diese Vorwürfe wurden ausführlich von der Politik diskutiert und schließlich arbeitete das Niedersächsische Umweltministerium an einem 132-seitigen Bericht zur Aufklärung mit. In dem Bericht wurden Fehler eingeräumt – doch offen bleibt, ob die Fehler der Behörden im Zusammenhang mit der Explosion standen. Das sollten die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft klären.

Was ergeben die Ermittlungen?

Die juristische Aufarbeitung der Ereignisse zieht sich, 2018 gibt die Staatsanwaltschaft Verden bekannt, sie habe ihre Ermittlungen eingestellt. Eine fahrlässige Tötung des verstorbenen Mitarbeiters sei nicht mit einer für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu beweisen. Auch der Vorwurf des unerlaubten Umgangs mit Abfällen und des unerlaubten Betreibens von Anlagen kann nicht bestätigt werden.

Weil die Anlage durch die Explosion so sehr beschädigt und Geschäftsunterlagen durch die Flammen vernichtet wurden, kann die Staatsanwaltschaft nicht mehr nachvollziehen, ob der Betrieb alle behördlichen Sicherheitsstandards und Auflagen einhielt. Warum es zu der Explosion kam, wird nie geklärt – ein technischer Effekt kann laut Sachverständigen nicht ausgeschlossen werden. Der Geschäftsführer von Organo Fluid, Wolfgang Koczott, äußert sich damals wie heute nicht zu dem Ereignis.

Wie hat sich Ritterhude durch das Unglück verändert?

"Das Unglück hat die Menschen im Quartier ganz dicht zusammengerückt", sagt Jürgen Kuck (SPD), Bürgermeister von Ritterhude. Die Reparatur der Häuser oder die Kommunikation mit der Versicherung hätten die Gemeinschaft zusammengeschweißt.

Manche in der Straße haben den Tag wie einen zweiten Geburtstag gefeiert, für sie war es ein Wunder, dass ihnen nichts passiert ist.

Jürgen Kuck (SPD), Bürgermeister von Ritterhude

Kuck sagt aber auch, dass durch die Explosion Zweifel an Behörden gewachsen sei. "Die Menschen haben ein wenig das Vertrauen in die Kontrollinstanzen verloren", sagt er. "Durch eine Bürgerinitiative wurde früh an uns herangetragen, dass es nach Lösungsmitteln aus der Kanalisation riecht. Wir haben das weitergegeben, aber wenn jemand von der Gewerbeaufsicht vorbeikam, war nichts aufzufinden."

Uwe Vanester und Karl-Friedrich Brust sagen beide, dass die Katastrophe möglichweise vermeidbar gewesen wäre, wenn Behörden stärker durchgegriffen hätten.

Wie sieht es heute im Quartier aus?

Dort, wo früher der Chemie-Recyclingbetrieb von Organo Fluid stand, befindet sich heute nur noch ein eingezäunte Wiese. Ein fast von Efeu überwuchertes Grablicht erinnert daran, dass vor zehn Jahren ein Mensch an den Folgen der Explosion starb.

Im vergangenen Jahr beschloss der Ritterhuder Stadtrat einen neuen Bebauungsplan, von nun an dürfen Wohnhäuser auf dem Grundstück entstehen. Auf dem umliegenden Areal sollen Büros, Werkstätten und Wohnungen gebaut werden. Der neue Bebauungsplan erlaubt erneut auch Firmen – schließt allerdings die Ansiedlung von Chemie-Recyclingfirmen wie Organo Fluid aus.

Der ehemalige Geschäftsführer von Organo Fluid, Wolfgang Koczott, betreibt mittlerweile eine andere Firma namens "Entwicklung Planung Applikation" (EPA). Sie ist laut Website auch in der chemisch-technischen Industrie tätig und hat sich unter anderem in Osterholz-Scharmbeck, gut 15 Autominuten von dem früheren Standort von Organo Fluid in Ritterhude, niedergelassen.

Rückblick: Ein Jahr nach der Explosion in Ritterhude

Bild: Radio Bremen

Autorin

  • Autorin
    Sophia Allenstein

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Rundschau am Mittag, 9. September 2024, 12 Uhr